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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Vorräte an Stein, Glas und anderen Materialien lagerten überall, auch hier in den Türmen.
    Als ich die etwa handgroßen Glasstücke eins nach dem anderen her-ausnahm und gegen den Lichtstrahl hielt, der durch eine hohe Fensteröffnung hereinfiel, erkannte ich menschliche Formen. Schnell begriff ich, daß ihr Geheimnis nichts mit dem Sonnenstein zu tun hatte, aber sehr viel mit der Seele des Glöckners. Die Glasfiguren waren die einzigen Menschen, die sein abgeschiedenes Leben teilten, die ihm ganz nach Belieben zur Verfügung standen. Das Spielzeug eines einsamen Kindes.
    Sorgsam schlug ich die Glasmenschen wieder in das Tuch ein und legte das Bündel zurück auf den Boden der Kiste. Dabei stieß ich an etwas Hartes. Es war das Neue Testament, das Leonardo dem Glöckner geschenkt hatte und mit dem Quasimodo in einer Januarnacht zu mir gekommen war, um in die Kunst des Lesens eingeweiht zu werden.
    Der Einband aus Schafsleder war abgegriffener, als ich ihn in Erinnerung hatte, und eine Anzahl Seiten klebte lose und zerknittert zwischen den anderen.
    Es gab nur eine Erklärung. Nachdem Frollos Auftauchen in jener Nacht Quasimodo davon abgehalten hatte, von mir das Lesen zu er-lernen, hatte er es allein versucht. Natürlich ohne Erfolg, und voller Wut und Verzweiflung hatte er die bedruckten Seiten aus der Heiligen Schrift gerissen. Dann hatte er voller Reue das Papier mit seinen ungeschlachten Händen notdürftig geglättet und wieder in das Buch gelegt.
    Mitgefühl, wie ich es auch bei seinem Besuch schon verspürt hatte, erfasste mich. Ich fühlte mich der armen Kreatur nahe, fast verwandt. Hatten wir nicht ein ähnliches Schicksal durchlitten, aufge-wachsen ohne Vater und ohne Mutter, als Fremde unter Fremden? Ich hatte mich in die Welt der Bücher geflüchtet, ein Weg, den Dom Frollo seinem Zögling verwehrte.
    Quasimodo blieb nur die Musik der Glocken, mit der er eins werden konnte. Ihr gab er sich mit Leib und Seele hin, und hier oben, so nahe bei Marie und Jacqueline, mußte das Geläut selbst dem Tauben in den Ohren dröhnen. Vielleicht bedeuteten die Glocken ihm mehr als Menschen, denn sie wiesen ihn niemals zurück, lachten nicht über seinen missgestalteten Leib, über sein unförmiges Antlitz. Treu hielten sie zu ihm und sprachen mit ihm, wann immer es ihm nach ihren tröstenden Wort verlangte. Und wenn ihm doch einmal nach Menschen war, legte er die bunten Glasstücke auf den Boden und schuf sich eine Familie menschlicher Gestalten, die ihn, das Ungeheuer, stumm und willenlos ertrugen. Oh, wie gut konnte ich ihm nachfühlen!
    Und doch packten mich Erschrecken und Furcht mit eisigen Klauen, als ich das Kribbeln in meinem Nacken spürte. Es kroch meinen Rük-ken hinab wie eine große Spinne, langsam, aber stetig, um sich über meinen ganzen Leib auszubreiten. Ein warnendes Kribbeln, doch es kam zu spät. Obwohl ich keinen Laut gehört und nichts gesehen hatte, wußte ich, daß hinter mir jemand stand und auf mich, der ich am Boden vor der geöffneten Truhe hockte, herabsah. Es war, als hätte ich ein zweites Augenpaar im Hinterkopf.
    Quasimodo! Eben noch hatte ich Anteilnahme empfunden, jetzt war es nackte Angst. Die Vorstellung, wie sein monströser Leib sich über mich beugte, lähmte mich. Nur meine Gedanken flogen umher wie die Vögel draußen am Frühlingshimmel. Sie zwitscherten mir zu, daß etwas nicht stimmte, nicht paßte. Wenn Quasimodo hinter mir stand, wieso hatte ich die ganze Zeit über das Läuten der Sextglocke vernommen?
    Unendlich langsam, gepeinigt von der Furcht vor dem, was meine Augen erblicken würden, drehte ich mich um – und fand es nur wenig tröstlich, daß nicht Quasimodo hinter mir in die Kammer getreten war. Sein düsterer Ziehvater war kaum ein angenehmerer Gesellschafter, schon gar nicht seit jenem Abend, als ich mit angesehen hatte, wie er den Hauptmann der königlichen Schützen erstach. Seitdem nagte in mir der schreckliche Verdacht, daß der Archidiakon und der Schnitter von Notre-Dame ein und derselbe Mann waren. Dom Claude schien mich damals nicht bemerkt zu haben, und falls doch, hatte er es sich nicht anmerken lassen. War er jetzt gekommen, um in dieser abgeschiedenen Kammer den missliebigen Zeugen zum Schweigen zu bringen?
    Frollo bewegte sich nicht, war ein starrer Schatten vor dem Durchgang zum Glockenstuhl. Kein Dolch blitzte auf, um meine Kehle aufzureißen. Doch seine Blicke durchbohrten mich kaum weniger schmerzhaft. Ähnlich meinem Vater Villon besaß der

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