Im Schatten von Notre Dame
erringt!«
Er sprach so ergreifend, daß ich beinahe zum Gebet auf die Knie gefallen wäre. Rechtzeitig begriff ich, daß er es nicht wörtlich gemeint hatte. Und ich erkannte, daß ich dem wahren Claude Frollo und dem, was er unter wahrem Glauben verstand, noch nie so nahe gewesen war wie in diesem Gespräch. Leider verriet er nicht mehr. Schlurfende Schritte, die durch den Glockenstuhl hallten, beanspruchten unsere Aufmerksamkeit. Jetzt erst wurde mir bewußt, daß die Glocke im Nordturm längst nicht mehr schlug.
Als Quasimodo uns erblickte, seine geöffnete Truhe, das Neue Testament und die zerstreuten Papierblätter am Boden, stieß er einen unmenschlichen Schrei aus, laut genug, um mit der Großen Marie in Wettstreit zu treten. Sein Auge weitete sich, die Muskeln in der Teufelsfratze zuckten, und die Lippen zogen sich von den großen gelben Zähnen zurück. Im Wald von Sarthe, als ich für die Mönche Pilze suchen wollte, hatte ich einmal unvermittelt einem Wolf gegenübergestanden.
Als der Wolf mit drohendem Knurren sein Raubtiergebiß entblößte, hatte er ähnlich ausgesehen wie jetzt der Glöckner. Damals hatte ich, vor Schreck erstarrt, mein Gegenüber einfach nur angesehen, bis der Wolf genug hatte und gelangweilt davonlief. Ich bezweifelte, daß es mit Quasimodo auch so einfach sein würde.
Mit einem plumpen Schritt trat er auf mich zu und hätte mich wohl gepackt, hätte nicht Frollo zwischen uns gestanden. Der Archidiakon machte ein paar schnelle Handzeichen, die ich kaum richtig sah, die dem Glöckner aber mehr sagten als Worte. Ein widerwilliges Knurren ausstoßend, zog er sich ins Glockengestühl zurück. Der Hund, der Sklave, gehorchte dem Herrn aufs lautlose Wort.
»Ihr geht jetzt besser, Armand, die Sergeanten warten schon auf Euch.«
»Die Sergeanten?« wiederholte ich und ahnte nichts Gutes.
Frollo nickte. »O ja, deshalb suchte ich Euch. Dieser Leutnant Falcone verlangt wieder einmal nach Euch, seine Sergeanten warten auf dem Vorplatz.«
Als ich die Kammer verließ, lehnte Quasimodo an Maries bronze-nem Leib und tätschelte ihn wie einen treuen Hund oder einen lieben Freund. Bei meinem Anblick verfinsterte sich seine Miene, und sein Blick wurde böse, trieb heißkalte Schauer über meinen Rücken.
Kapitel 2
Gesotten und gehängt
Auf den Stufen, die von den Portalen zum Domplatz hinabführten, wurde ich von zwei Sergeanten empfangen. Es waren dieselben, die mich damals zur Leichenkammer im Grand-Châtelet geführt hatten. Und sie waren noch genauso wortkarg. Also verlangte ich keine Erklärungen, sondern folgte ihnen einfach. Erst als wir nicht in Richtung Châtelet gingen, sondern geradewegs auf die Notre-Dame-Brücke zuhielten, erwachte mein Misstrauen, und ich fragte nach unserem Ziel.
»Es geht zur Hinrichtung!« bellte einer der Sergeanten und schwieg wieder, als sei damit alles gesagt.
Unruhe erfasste mich, obgleich – oder weil – jenseits der Brücke der Grève-Platz mit dem Galgen und darob wohl auch mit der Antwort auf mich wartete. Ich dachte an la Esmeralda, die schon seit Wochen im Kerker des Grand-Châtelet schmachtete. Ihr Vater und Villon hatten alle Pläne, gewaltsam in die Festung einzudringen, verworfen. Nach dem fehlgeschlagenen Versuch, Marc Cenaine zu befreien, dessen neuer Aufenthaltsort uns noch immer unbekannt war, hatte man die Wachen in den Pariser Gefängnissen verdoppelt und die Sicherheitsvor-kehrungen verschärft. Uns hätte ein weitaus blutigeres Fiasko gedroht als in der Conciergerie, und der Ausgang war viel zu ungewiss.
Anfang Mai sollte der Zigeunerin der Prozess gemacht werden, und wir hofften, daß sich dann ihre Unschuld herausstellte. Aber wenn nicht la Esmeralda hingerichtet wurde, wem dann würde der Henker das Leben nehmen?
Als wir den großen Platz am rechten Flussufer erreichten, steigerte sich meine Verwirrung noch. Der Galgen reckte sich müde und verlassen über die Köpfe der Menschen, die ihm keinerlei Beachtung schenk-ten. Sie umlagerten die Verkaufsstände oder lauschten dem Gelärm einer bunten Gauklerschar, deren aus klapprigen Brettern zusammen-gezimmerte Bühne an der Ostseite vor dem Rathaus stand. Am Kai wurden drei soeben eingetroffene Handelsschiffe mit Lebensmitteln für die Markthallen entladen, und die Schauerleute, froh, für ein paar Stunden Arbeit gefunden zu haben, buckelten tief unter den schweren Packen. Wir ließen den Grève-Platz hinter uns, und bald umhüllte uns der strenge Geruch des Schweinemarkts. Die
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