Im Schatten von Notre Dame
jeder seinen eigenen Gott erschafft? Dabei gibt es dies hier, die steinerne Schrift.« Er drehte sich um sich selbst und wollte mit einer ausgreifenden Armbewegung ganz Notre-Dame umschlingen.
»Die Kathedralen weisen dem Volk den richtigen Weg. Sie sind Abbilder des himmlischen Jerusalems auf Erden. In Stein gehauene und in Glas gesetzte Geschichten, einfach genug, um den schlichten Geist nicht zu verwirren. Stein und Licht lassen die Menschen tanzen und frohlocken. Was sie darüber hinaus wissen müssen, sagen ihnen die Kundigen der Heiligen Schrift.«
»Ihr meint Euren Stand, den Klerus.«
»Natürlich!« schnaubte der Archidiakon. »Wer sonst als jene, die ihr Leben dem Studium der Bibel geweiht haben, sollte sie verstehen können?«
»Aber gerade das ist es!« Auch ich sprach jetzt voller Eifer. »Gerade das Studieren schärft den Geist. Nehmt Ihr den Menschen die Bü-
cher, dann nehmt Ihr ihnen auch die Möglichkeit zu verstehen, zu denken!«
»Genau das will ich. Was hat das Denken den Menschen eingebracht außer Gier, Neid und Mord? Wer denkt, fühlt sich als etwas Besonderes, etwas Erhabenes, und er schaut auf die anderen herab.«
»Ihr auch, Domine?«
»Als Mann des Glaubens habe ich gelernt, meine Begierden zu zü-
geln.«
»Ich bin kein Mann des Glaubens und doch des Lesens kundig, darin unterwiesen von frommen Brüdern.«
»Ihr hattet die rechte Anleitung, Armand. Und doch, fühlt Ihr Euch nicht zuweilen verwirrt von den vielen Büchern in den Bibliotheken, die einander oft mehr widersprechen denn ergänzen? Glaubtet Ihr beim Studium der Schriften nicht, den Halt zu verlieren und aus der Wirklichkeit in die Welt fremder Gedanken zu stürzen? Ja, was gibt Euch die Sicherheit, daß dies alles hier, Paris und Notre-Dame und unser Zwiegespräch, Wirklichkeit ist und nicht nur einer jener unnützen Gedanken, die arme Geister auf billiges, schlechtes Papier druk-ken, um andere arme Geister mit unnützer Lektüre um ihr schwerver-dientes Geld zu bringen?«
»Wäre ich nur ein fremder Gedanke, könnte ich selbst nicht denken.«
»Der andere, Euer armseliger Schöpfer und Gott, dachte für Euch.«
Ein neuerlicher Schwindelanfall ließ mich auf den dreibeinigen Schemel niedersinken. Ahnte, wußte gar der Archidiakon, wie tiefer mich getroffen hatte? Seit ich Paris betreten hatte, riß mich ein Strom seltsamer, unglaublicher Ereignisse mit sich, unaufhaltsam wie eine der menschlichen Beeinflussung entglittene Denkmaschine des Raimundus Lullus. War die Erklärung für alle Merkwürdigkeiten einfach die, daß sie nur ein Hirngespinst waren? Dann war auch Frollo nur die Ausgeburt eines kranken Geistes – eines fremden oder meines eigenen? Wenn ich aber ihn und mich selbst nur dachte, war ich dann mein eigener Gott?
»Meine Worte stürzen Euch in Zweifel«, fuhr der Archidiakon triumphierend fort. »Bedenkt, wie groß die Verwirrung erst bei Menschen sein muß, die nicht gelernt haben, mit der Vielzahl fremder Gedanken umzugehen. Wer den Buchdruck beherrscht, kann das Volk beherrschen, kann Aufruhr oder Lethargie säen, ganz wie es ihm beliebt. Das Wort Gottes wird zur bloßen Materie, mit schmutzigen Maschinen gedruckt, vergänglich wie das dünne Papier, auf dem es steht.
Wie eine Vogelschar schwirren die Gedanken durch die Lüfte und trällern falsche Lieder, denen das Volk nachjagen und über denen es die wahren Gebote Gottes vergessen wird.«
Ich hatte mich ein wenig erholt und seufzte: »Viele sagen, daß mit Gutenberg ein neues Zeitalter angebrochen sei.«
»Nicht eine neue Zeit, sondern das Ende der Zeit!« Frollo preßte beide Hände gegen die Wand. »Das Ende der Kathedrale, der wahren Verkündung. Das Kleine besiegt das Große, das Unbedeutende das Wichtige. Ein schmerzender Zahn zerfrisst den ganzen Menschen. Die Nil-ratte tötet das Krokodil, der Schwertfisch den Wal, und das Buch wird die Kathedrale, den Glauben, töten!«
»Der Glaube muß schwach sein, wenn eine Erfindung des Menschen ihn zu besiegen vermag.«
Frollos Blick, der eben noch im Stein der Kathedrale die Ewigkeit gesucht hatte, kehrte zu mir zurück, traurig, niedergeschlagen. »Ihr versteht nicht, worum es geht, mein Freund. Ihr preist die Erfindung, die Euch eines Tages Brot und Leben rauben wird. Ist das nicht krankhaft?
Lasst uns beten, daß der Jüngste Tag anbricht, bevor aus der Welt des Glaubens eine der flüchtigen und falschen Gedanken geworden ist, bevor die Materie ihren endgültigen Sieg über die Seele
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