Im Schatten von Notre Dame
wälzte ich mich von dem Misthaufen, dessen Gestank mich eine ganze Weile begleiten würde. Doch das war jetzt nicht wichtig. Ich mußte zu den Scharwächtern hinauf, mußte ihnen sagen, daß sie sich irrten. Gerade stand ich auf meinen Beinen, da hielt mich eine starke Hand an der Schulter fest.
»Bleibt hier, Signore Armand, die Wächter würden Euch nicht glauben, zumal Ihr zerzaust seid und stinkt wie einer, der den Wunderhof sein Heim nennt.« Leonardo rümpfte die Nase und fuhr dann im selben Flüsterton fort: »Wir sollten machen, daß wir fortkommen! Falls die Scharwache doch auf den Gedanken verfällt, die umliegenden Gassen abzusuchen, darf von uns nichts mehr zu sehen und zu riechen sein.«
»Aber … wie kommt Ihr hier …«
»Was meint Ihr, warum Villon mich mit Euch zum Wunderhof sandte? Wir hatten einen Hinweis, daß la Esmeralda sich für heute abend mit dem Hauptmann verabredet hat. Durch Euer übereiltes Handeln habt Ihr meine Mission übernommen, und mir blieb nichts anderes übrig, als statt der Verfolger einer Verfolgten nur der Verfolger eines Verfolgers zu sein. Keine dankbare Aufgabe, glaubt’s mir.«
Ich sah ein, daß Leonardo recht hatte. Die Scharwächter würden mir bestimmt nicht glauben, mich allenfalls neben la Esmeralda an den Galgen bringen. Widerstrebend folgte ich ihm zur Saint-Michel-Brücke und warf einen letzten Blick auf das aufgestoßene Fenster des Sankt-Martha-Zimmers. Jetzt erst, viel zu spät, fiel mir ein, daß die heilige Martha auch die Schutzherrin der Sterbenden war.
Villon saß in seiner unterirdischen Kammer über die Ars Magna et Ultima des Raimundus Lullus gebeugt, als wir erschienen und ihm von dem Mord an Phoebus de Châteaupers berichteten. Er hörte uns ruhig und schweigend zu, aber sein Gesicht verhärtete sich zusehends, und mit müdem Blick sagte er schließlich: »Immer wieder kommen uns die Dragowiten zuvor. Wäre der Mörder nur einen Augenblick später gekommen, hätte der Hauptmann seinen Gewährsmann verraten!«
»Wir können froh sein, daß zufällig die Scharwache so schnell erschienen ist«, warf ich ein. »Sonst wäre auch la Esmeralda in Lebensgefahr gewesen.«
»Das ist sie jetzt nicht minder«, sagte Leonardo. »Außerdem glaube ich nicht an einen Zufall. Die Dragowiten benutzen die Scharwächter wie auch die königlichen Schützen für ihre Zwecke. Sie haben die Scharwache wohl selbst gerufen, damit man die Leichen des Hauptmanns und seiner Geliebten in ihrem Blut fand. Andernfalls wäre der Trupp kaum so schnell bei der Kupplerhöhle aufgetaucht. Mord und Selbstmord aus Leidenschaft, so sollte es nach dem Willen der Dragowiten aussehen. Damit wären, ohne einen Verdacht zu erregen, der Lockvogel und der mögliche Verräter des Verräters beseitigt gewesen.
Nur waren die Scharwächter so rasch vor Ort, daß sie den Attentäter der Dragowiten überraschten.«
Villon nickte. »Wenn wir wenigstens ihn kennen würden …«
»Aber ich habe ihn erkannt!«
Das hässliche Antlitz Villons und das hübsche Gesicht des Italieners drehten sich wie auf einen geheimen Befehl zu mir. Ihre fragenden Augen hingen an meinen Lippen, wollten mich durchbohren.
»Wer war es?« flüsterte Villon.
Ich dachte an das strenge Gesicht, das ein hilfreicher Mondstrahl mir für einen kurzen Augenblick enthüllt hatte. An den Blick aus zu allem entschlossen Augen, der unter der hohen Stirn aus tiefen Höhlen hervorstach wie eine zum Angriff geführte Klinge. Ein Blick, so kalt wie Eis und zugleich so flammend, daß er einen Menschen verbrennen konnte. Kein Wunder, daß ich unwillkürlich vor dem Mann zurückgewichen war.
»Wer?« wiederholte drängend Villon.
Die vermummte Gestalt, die den blutigen Dolch umklammerte, vor meinem geistigen Auge, sagte ich leise: »Dom Claude Frollo!«
FÜNFTES BUCH
Kapitel 1
Menschen aus Glas
Das Geläut der Mittagsglocke hallte über Notre-Dame und die Ci-té-Insel, um noch weit darüber hinaus in der lauen Aprilluft über Paris zu schweben und in einen fröhlichen Wettstreit mit dem Gesang der Zaunkönige und der aus ihren Winterquartieren heimge-kehrten Mönchsgrasmücken zu treten. Unten in den Gassen tummelten sich die Menschen und nutzten die warmen Sonnenstrahlen für ihre Geschäfte. Ich aber schlich am helllichten Tag wie ein Dieb über die Brücke zwischen den beiden großen Türmen, auf den Südturm zu, der über den Dächern des Hôtel-Dieu aufragt wie ein riesenhafter Wächter. Trotz der hellen Sonne hoch oben
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