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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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bereits getrunkenen Fusel einen zweiten Krug billigen Roten hinzu, der meinen Kopf benebelte, aber meine Wut auf Villon nicht abschwächte. Die Worte der Menschen um mich her verschwam-men und ebenso die Konturen des Raums, doch das Bild des unglücklichen Buckligen stand deutlich vor mir.
    Ich verstand die Entscheidung meines – unseres – Vaters nicht, hielt sie für hartherzig. Noch fünf Tage bis zum Markt von Saint-Germain, doch wohl Zeit genug, Quasimodo zu suchen! Brauchte Villon tatsächlich jeden Mann? Oder war ihm der bucklige Sohn gleichgültig, da er ihm zu nichts nütze war? Ja, so muß es sein, redete ich mir ein. War nicht auch ich dem Vater gleichgültig gewesen, bis er mich für seine Pläne gebrauchen konnte? Oder missbrauchen!
    Ich hieb mehrmals mit der Faust auf den Tisch, als könnte der Schmerz in meiner Hand den in meiner Seele betäuben. Der irdene Becher fiel zu Boden und zersprang. Ich trank aus dem Krug weiter, merkte kaum, daß die rote Flüssigkeit an meinem Kinn hinunterrann, auf und in mein Wams troff.
    Bis mir der Krug mit sanfter Gewalt weggenommen wurde und eine helle Stimme tadelnd fragte: »Wollt Ihr Euch besaufen oder Euer Wams rot färben, Armand?«
    »Beides«, knurrte ich, während ich mich zwang, durch den Nebel vor meinen Augen zu sehen. Ich erkannte die schönen, sehr ernsten Züge Colettes. »Ihr als frischgebackene Katharerin seid den Lastern gewiß abhold.«
    »Nicht alle Reinen sind das, sonst gäb’s hier keinen Wein. Ich aber habe auch vorher nicht getrunken.«
    »Ich habe mich schon als Knabe besoffen, als mir durch Zufall der Schlüssel zum Weinkeller der Abtei Sablé in die Hände fiel.«
    »Und was hat es Euch gebracht?«
    »Hundert Avemaria, zweihundert Vaterunser, drei Monate Küchen-dienst und einen Brummschädel.«
    »Ihr habt nicht daraus gelernt.«
    Ich wollte mir den Weinkrug zurückholen, aber sie hielt ihn fest.
    »Euer Vater hat mir aufgetragen, mich um Euch zu kümmern, Armand. Ich werde Euch zu Eurer Zelle führen. Dort könnt Ihr schlafen und auf den Brummschädel warten.«
    An ihrem festen Blick erkannte ich, daß sie nicht nachgeben würde.
    Es gab zwei gute Gründe, nicht mir ihr zu streiten: Erstens war ich betrunken, und zweitens war sie eine Frau und behielt schon allein deshalb zweifelsohne recht. So folgte ich ihr durch finstere Gänge, die mir endlos und verworren erschienen.
    Die Zelle war klein und, da unter der Erde gelegen, ohne Fenster.
    Neben einem einfachen Bettgestell mit Strohmatratze gab es nur einen kleinen Tisch und einen wackligen Schemel. Ich spielte den belei-digten Trunkenbold, kehrte Colette den Rücken zu und begann, mein Bündel aufzuschnüren.
    »Euer Vater meint es gut mit Euch, Armand. Morgen, wenn Euer Rausch verflogen ist, werdet Ihr das erkennen. Ich wäre froh, wenn ich meinen Vater noch hätte.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu:
    »All die Dinge, die wir erleben, sind schmerzhaft und verwirrend, aber es führt zu nichts, wenn Ihr Euch betäubt.«
    Wütend fuhr ich zu ihr herum und schnappte: »Ausgerechnet Ihr müßt mir das sagen, Colette! Ihr, die Ihr Euch betäubt habt wie niemand sonst. O nein, nicht mit Wein, das nicht, Ihr tut das auf ganz andere Art. Ihr werdet zur Reinen, entsagt allen weltlichen Versuchun-gen, bloß um Euch nicht mehr damit beschäftigen zu müssen. Ich habe für ein paar Stunden meinen Verstand betäubt, Ihr dagegen auf ewig Eure Seele!«
    Ihre Lippen zitterten, und vielleicht hätte sie geweint, wären ihre Tränen nicht versiegt gewesen. Mit bebender Stimme sagte sie: »Ihr müßt meine Entscheidung hinnehmen, Armand. Es hat keinen Sinn, mich zu beschimpfen.«
    »Warum regt Ihr Euch dann so auf?« fragte ich, beseelt von dem Triumph des Betrunkenen, der die Schwäche seines Gegenübers durchschaut hat. »Doch wohl nur, weil ich die Wahrheit gesagt habe. – Ach, zum Teufel mit euch Guten Seelen!«
    Ich drehte mich wieder von ihr weg, kramte in demonstrativer Mis-sachtung ihrer Person in meinem Bündel und fühlte etwas Hartes in meiner Hand. Es war der geringelte Drache, mit dem mein Verhängnis begonnen hatte. Ich wollte die Holzfigur, die mir kein Glück gebracht hatte, endlich loswerden. Ruckartig drehte ich mich um und schleuderte sie neben Colettes Füße in eine Ecke der Zelle. »Da habt Ihr Eure elende Ananke!«
    Dem Aufprall folgte ein leises Knacken. Das Holz zersprang wie ein rohes Ei, das aus Unachtsamkeit der Hand entglitt. Nur zerfiel der Ouroboros nicht in

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