Im Schatten von Notre Dame
verkörpert die Allmacht des Lebens und Sterbens, aber auch das Leben über den Tod hinaus. Als Seth, der König der Unterwelt, Osiris, den Gemahl der Isis, tötete und zerstückelte, suchte Isis die einzelnen Teile des Osiris, setzte sie wieder zusammen und erweckte ihren Gemahl zu neuem Leben.«
»Ein Symbol für das Leben, das uns nach dem Tod erwartet, für die Unsterblichkeit unserer Seele«, fügte Villon unter hohlem Röcheln hinzu.
Leonardo nickte heftig. »Isis, die Allmächtige, ist die Verkörperung der Machina Mundi.«
Mathias sah ihn streng an. »Ich würde eher sagen, die Machina Mundi verkörpert die Macht der Göttin Isis.«
»Eins ist wie das andere«, sagte Villon. »Die Philosophen im Gefolge des Pythagoras sahen in Isis die Verkörperung der ganzen unter der Sonne liegenden Welt, die absolute Ursächlichkeit aller Dinge, die alles gebärende Urmacht. Machina Mundi!«
Das alles schien mir ein wenig hoch gegriffen, aber auch ich wollte mich an dem gelehrten Disput beteiligen, und so warf ich ein: »Heißt es nicht, der Marienkult sei mit dem der Isis verwandt, sei ihm sogar entsprungen?«
Leonardo schenkte mir ein breites Grinsen: »Ihr werdet noch ein echter Ketzer, Signore Armand. Aber Euer Gedanke ist zweifellos richtig. Beide Male wird die Göttergebärende verehrt, Unsere Liebe Frau.
Womit die Verbindung zur Kathedrale von Notre-Dame offensichtlich ist.«
»Deren Geheimnis wir immer noch nicht ergründet haben«, meinte Tommaso säuerlich.
»Solange der Sonnenstein dort verborgen ist, können auch die Dragowiten seine Kraft nicht nutzen«, fuhr Leonardo fort. »Und wenn wir die Machina Mundi zerstören, ist die Gefahr gebannt.«
»Es sei denn, die Dragowiten bauen eine neue Weltmaschine«, entgegnete Mathias. »Zumindest würden wir Zeit gewinnen. Aber wo sollen wir die Weltmaschine suchen und wie? Das ist eine Festung.« Er legte seine Hand auf den Plan der Abtei und schaute zweifelnd drein.
Villon hatte sich ein wenig erholt und sagte: »Zu Eurer ersten Frage, Herzog: Ich glaube nicht, daß die Maschine in den Gebäuden der Abtei zu suchen ist. Das wäre zu unsicher. Mögen die Dragowiten auch Verbündete in Saint-Germain-des-Prés haben, gewiß steht die Mehr-heit der frommen Brüder nicht auf ihrer Seite.«
Die Falten im Gesicht des Zigeuners zuckten unwillig. »Dann wird es noch schwieriger, das scheinbar gelöste Rätsel wieder nebelhaft.«
»Aber warum denn, Herzog?« meinte Villon ruhig. »Überlegt doch, wo Ihr eine solche Maschine errichten würdet, wenn sie unentdeckt bleiben soll. Und zieht in Betracht, daß Isis auch als Erdgöttin verehrt wird, als Göttin der Unterwelt.«
»Ja«, sagte Mathias gedehnt. »Ihr habt recht, Maître Villon, mich einen Narren zu nennen. Warum solltet Ihr allein so klug sein, Euch unter die Erde zurückzuziehen!«
»Zumal sich auch der Großmeister mit seinem Neunerbund unterirdisch traf, wie unser Freund Armand bestätigen wird«, pflichtete Leonardo ihm bei. »Gehen wir also davon aus, daß irgendwo unter der Abtei, vermutlich in den alten Gewölben des Isis-Tempels, die Weltmaschine steht. Jetzt bleibt die Frage zu klären, wie wir ungehindert nach ihr suchen können.«
»Das Wie klärt sich mit dem Wann«, sagte Villon. »Der Jahrmarkt wird uns helfen, der Markt von Saint-Germain. Im Schutz seines Trubels können wir uns ungehindert auf dem Gelände bewegen.«
»Der Markt von Saint-Germain ist doch schon vorüber«, warf ich ein. »Er begann bereits im Februar.«
»Das ist so eine Geschichte«, sagte Villon und hustete erneut. »Philipp der Schöne hatte den Mönchen den einträglichen Markt untersagt, um den Markthallen größeren Aufschwung zu verschaffen. Das ist jedenfalls der Grund, der in den Chroniken vermerkt ist. Aber Philipp, der die Templer auf die Scheiterhaufen schickte, war selbst hinter dem gro-
ßen Geheimnis her. Er muß geahnt haben, daß Saint-Germain-des-Prés einen Schatz birgt, und wollte nicht, daß sich zu viele in seiner Nähe tummeln.«
»Ja, so muß es gewesen sein«, sagte Leonardo. »Nur starb Philipp kurz nach dem Templerprozeß und hatte keine Zeit mehr, sich um die Weltmaschine zu kümmern.«
Villon fuhr fort: »Im letzten Jahr konnte der Abt von Saint-Germain bei König Ludwig durchsetzen, daß die Abtei ihren Jahrmarkt wieder abhalten darf, allerdings im Februar, um nicht zu viele Menschen aus Saint-Denis und von den Märkten der Champagne wegzulocken.
Das ist eine ungünstige Jahreszeit für
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