Im Schatten von Notre Dame
mir ein Wachtposten, daß es bereits Nachmittag war. Elender Wein! Ich wollte meinem Vater das zersprungene Behältnis überreichen und ihm mitteilen, daß ich die Katharer verlassen würde, um nach meinem Bruder zu suchen. Der Wachtposten führte mich in einen großen Raum, in dem mehrere Männer und Frauen unter den Augen Villons und der drei Italiener mit allerlei Werkzeug und anderen Geräten hantierten, deren Zweck mir rätselhaft war.
»Der Schläfer ist erwacht«, rief Leonardo und grinste mir entgegen.
»In vino sopor. – Im Wein liegt die Trägheit.«
Ich verzog das Gesicht. »Ihr seid dafür doppelt fleißig.«
»Mit gutem Grund«, sagte Villon düster. »Schließlich gilt es, die Weltmaschine zu finden, bevor die Dragowiten den Sonnenstein entdecken.«
»Darüber macht Ihr Euch noch Sorgen?« Verwundert kratzte ich mir den brummenden Schädel. »Jetzt, da Ihr gegenüber den Dragowiten so sehr im Vorteil seid?«
Villon und die Italiener sahen mich verständnislos an, und Atalante meinte: »Im Wein liegt nicht nur Trägheit, sondern auch Durcheinander für den Kopf.«
»Eher Schmerz für den Kopf«, knurrte ich. »Aber ich kann noch klar genug denken, um mich an gestern abend zu erinnern.«
»Und?« fragte Villon, der mich mit einer Mischung aus Neugier und Verwirrung ansah. »Was war gestern abend?«
»Ihr tut so, als sei Euch völlig gleichgültig, was Colette Euch über-bracht hat.«
»Colette?« Ein pfeifendes Atmen, das sich zu einem kleinen Husten auswuchs, zwang meinen Vater, kurz innezuhalten. Dann fuhr er fort:
»Ich habe sie seit gestern morgen nicht mehr gesehen.«
»Ihr scherzt«, meinte ich unsicher.
»Warum sollte ich?« Er wurde ungeduldig, packte mich an den Schultern, schüttelte mich. »Verdammt, Armand, was wollt Ihr mir sagen?«
Wortlos streckte ich ihm die beiden Hälften des Ouroboros entgegen. Er nahm sie, wog sie in seinen Händen und betrachtete sie eingehend.
»Leichter als zuvor und hohl, ein Behältnis. Aber wie habt Ihr das entdeckt, Armand?«
»Es war ein Zufall. Ich habe den Drachen aus Wut auf Euch auf den Boden meiner Zelle geschleudert.«
»Und was befand sich darin?«
Ich wagte es nicht zu sagen, nicht unter diesen peinlichen Umständen. Aber mein betretener Blick genügte.
Für eine kleine Ewigkeit schien Villon fassungslos, ein heftiges Zittern lief durch seinen dürren Leib. Tommaso sprang zu ihm und stütz-te ihn, sonst wäre er womöglich gestürzt. Als Villon sich wieder gefaßt hatte, stieß er mit brüchiger Stimme hervor: »Bitte, Armand, sagt, das es nicht wahr ist!«
»Es ist wahr. Ich habe den Smaragd gesehen, sein Leuchten gespürt.
Es war wie damals … auf dem Montségur.«
Wie zu sich selbst flüsterte Villon: »Als ich Bruder Avrillot am Dreikönigsmorgen in den Gassen des Hôtel-Dieu traf, sagte er mir, er sei der Lösung des Rätsels nahe. Aber er selbst ahnte nicht, daß er so dicht dran war, daß er den Smaragd noch an jenem Tag finden würde …«
Plötzlich bäumte mein Vater sich auf und schrie mich an: »Warum habt Ihr mir den Stein nicht sofort gebracht?«
»Weil ich zu müde war und zu betrunken. Außerdem dachte ich, der Smaragd sei bei Colette in guten Händen. Sie wollte ihn Euch übergeben.«
»Sie hat ihn sicher zu jemand anderem gebracht«, sagte Leonardo.
Auch wenn er es nicht aussprach, war eindeutig, daß er die Dragowiten meinte. Trotzdem fragte ich wider besseres Wissen: »Sie hat das Vaterunser empfangen, warum sollte sie ihre Brüder und Schwestern verraten?«
»Um dem Menschen zu helfen, der ihr am nächsten steht«, sagte Villon leise. »Für den Sonnenstein tun die Dragowiten alles. Falls Marc Cenaine noch lebt, ist der Smaragd das beste Lösegeld.«
Ich stieß eine Reihe von Flüchen aus, wie die frommen Brüder im Kloster sie benutzen, wenn sie glauben, daß niemand zuhört. »Wäre ich nicht so benommen gewesen, hätte ich vielleicht etwas gemerkt. Sie sprach über ihren Vater.«
»Was hat sie gesagt?« bellte Villon.
»Ich weiß es nicht mehr genau. Mein Schädel …« Ich griff an meine pochenden Schläfen, denen das angestrengte Nachdenken zusetzte.
Villon gab den Italienern einen Wink. Tommaso und Atalante packten mich und schleppten mich zu dem großen Wasserfaß, in dem die Schmiede ihre glühenden Eisen abschreckten. Bevor ich noch recht begriff, wie mir geschah, steckten sie mich kopfüber in das Fass.
Wasser rings um mich! Ich wollte Atem schöpfen und schluckte das Nass. Wollte
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