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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Villon, der alte Hurenbock, mich zur Strafe ertränken?
    Endlich zogen sie mich aus der Tonne, aber nur, um mich nach kurzem Verschnaufen erneut unterzutauchen.
    Dann endlich, als ich schon nicht mehr zu hoffen wagte, Licht und Luft, freies Atmen!
    Ich hockte auf dem Boden, den Rücken an das Fass gelehnt, keuchte und schnaubte und rotzte Wasser. Mein Brustkorb pumpte, meine Lungen bebten. Haare und Kleider klebten an mir. Villon, die Italiener und andere Katharer umringten mich, als wollten sie Gericht über mich halten.
    »Ist Euer Kopf jetzt klarer?« fragte Villon, der Gerichtsherr.
    »Was Euch betrifft, ist er das schon seit gestern!« fuhr ich ihn an.
    »Jetzt sprechen wir nicht über mich, sondern über Colette. Was genau hat sie über ihren Vater gesagt?«
    »Es war nur ein Satz«, sagte ich und zog ihn aus meinem dröhnenden Hirn: »Ich wäre froh, wenn ich meinen Vater noch hätte.«
    »Mehr nicht?« fragte Villon enttäuscht.
    »Mehr nicht. Das Bad hat sich wohl für keinen von uns gelohnt.«
    »Aber doch!« erwiderte Atalante. »Euer Geruch, Signore Armand, war ein wenig penetrante. Wie sagt man hier in Frankreich?«
    »Penetrant«, erklärte Leonardo.
    Villon stieß einen tiefen Seufzer aus. »Zumindest bestätigt Armands Aussage unseren Verdacht, daß Colette zu den Dragowiten übergelau-fen ist.«
    »Vielleicht ist es noch nicht zu spät«, meinte Leonardo. »Es wird für das Mädchen nicht ganz einfach sein, mit den Abtrünnigen in Verbindung zu treten. Nachdem Dom Frollo aus Notre-Dame geflohen ist, dürften sich die Dragowiten in einiger Aufregung befinden. Mit ein wenig Glück können wir Colette abfangen.«
    »Versuchen wir es«, sagte Villon, doch er klang nicht sehr hoffnungsvoll. »Alle verfügbaren Leute sollen nach ihr suchen. Wir müssen au-
    ßerdem auch die Ägypter benachrichtigen.«
    »Das übernehme ich«, sagte ich matt. »Ich brauche frische Luft.«
    Als ich den Wunderhof erreichte, waren die Zigeuner gerade im Auf-bruch begriffen. Ungeduldig hörte sich der Herzog meinen Bericht an, dann sagte er zu meiner Überraschung: »Wir suchen morgen nach Colette. Es dämmert bereits, und in der Nacht werden wir sie kaum finden. Außerdem wartet Sita auf uns. Kommt Ihr mit?«
    Ich begleitete ihn, weil ich Sita gegenüber eine Schuld fühlte, die ich nicht abtragen, vielleicht aber ein wenig mildern konnte, wenn ich ihr das letzte Geleit gab. Die Ägypter zogen zum Grève-Platz, wo der Sergeant von gestern sie erwartete. Allerdings war er nur gegen einen zweiten Beutel Goldkronen bereit, die Gehenkte vom Galgen zu nehmen.
    Die Soldaten, die jetzt den Umzug anführten, untersagten jeglichen Lärm und alle Totenlieder. Stumm ging es durch die hereinbrechende Nacht zum Montfaucon, dem Galgenhügel, der selbst in der Finsternis schon von weitem in schrecklicher Pracht zu erkennen war. Außerhalb der Ringmauer, zwischen dem Tempelviertel und Saint-Martin, erhob sich der weißfahle Kalkhügel im Mondlicht wie ein gigantischer Totenschädel. Ein wuchtiger Mauerklotz aus altem, zerbröckelndem Gestein thronte auf der Kuppe und trug als Krone an drei von vier Seiten sechzehn breite Steinsäulen von dreißig Fuß Höhe. Hölzerne Balken führten von Säule zu Säule, und an jedem Balken hingen eiserne Ketten, die im Nachtwind einen klirrenden Schauergesang von sich gaben – das einzige Totenlied, das für Sita angestimmt wurde. An vielen der Ketten hingen Skelette oder halb verweste Leichen und schaukelten sanft hin und her, als genössen sie die Ruhe, die sie im Leben nicht gefunden hatten. Das Leuchten der Totenschädel im Mondlicht mutete an wie ein fröhlicher Willkommensgruß von Gevatter Tod. Wenn der Wind besonders heftig gegen die Gehenkten fuhr und ihre blanken Knochen schüttelte, glich es einem aufmunternden Winken.
    Wir erstiegen den Hügel, an dessen Fuß ein Steinkreuz und zwei kleinere Galgen standen, als seien die vielen Ketten nicht genug, um alle Schinder, Räuber, Mörder und Betrüger von Paris aufzunehmen.
    Unter unseren Füßen knirschte verfaulendes Gebein. Das Mauerwerk war innen hohl, ein Knochenhaus. Der Sergeant führte uns hinein, und atemberaubender Gestank hüllte uns ein. Ein kalter Hauch, der nicht von dieser Welt war, zog über meine Haut. Im Licht unserer Fak-keln tanzten unzählige Skelette, viele nur noch einzelne Knochen. Für Sita fanden wir einen Platz in einer kleinen Nebenkammer, wo wir sie sorgsam auf den Boden legten.
    Mathias sagte feierlich: »Gehe nun, Sita,

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