Im Schatten von Notre Dame
mehrere unregelmäßige Stücke, sondern in zwei gleiche Hälften. Etwas Grünes fiel heraus und kullerte ein Stück über den unebenen Boden, bis es in einer kleinen Kuhle liegen blieb.
Ich konnte es nicht genau sehen. Zunächst dachte ich, der Weindunst verneble meine Augen. Bis ich erkannte, daß ein gleichmäßiges Leuchten von dem Gegenstand ausging, eine grüne Aura. Ich hätte erschrek-ken müssen, aber es gefiel mir. Das Licht tat den Augen nicht weh, ich empfand es als angenehm, fast als vertrauenerweckend, als befinde sich in seinem Innern ein freundlich gesinntes Lebewesen. Das Leuchten war wie ein alter Bekannter aus ferner Vergangenheit. Damals …
damals … auf Montségur …
»Beim Vater der Guten Seelen, das ist der Sonnenstein!« keuchte Colette. »Der Smaragd aus Luzifers Krone! Armand, Ihr habt ihn bei Euch getragen …«
»Tja, sieht wohl so aus«, sagte ich mit schwerer Zunge und fühlte mich so elend, daß ich mich mehr aufs Bett fallen ließ, als daß ich mich setzte. »Ist das nicht lustig?«
»Lustig nennt Ihr das? Wie könnt Ihr …«
»Na, alles rennt seit Monaten hinter diesem verfluchten Sonnenstein her, und ich sitze quasi drauf. Habe drauf geschlafen, weil das Ding die ganze Zeit über in meinem Bettkasten lag.« Der Gedanke sorgte in meinem weingetrübten Verstand für unwillkürliche Erheiterung, und ich kicherte hektisch. »Der Zölestiner hatte das Rätsel längst ge-löst. Wahrscheinlich war er mit dem Smaragd unterwegs zu Villon, als er in den Umzug der flämischen Gesandtschaft geriet und notgedrungen mitlaufen mußte. Und Godin ahnte etwas, wohl nicht, daß Avrillot den Stein gefunden hatte, aber doch, daß er des Rätsels Lö-
sung nahe war.«
Ich brach in schallendes Gelächter aus. Was blieb mir übrig? Sollte ich weinen über all das sinnlos vergossene Blut? Weder Luzifer noch Gott läßt sich von Tränen rühren und das Schicksal schon gar nicht.
»Wir müssen den Stein sofort zum Bischof bringen!« sagte Colette.
Ihre Stimme bereitete mir Kopfschmerzen, so wie jedes Geräusch.
Verfluchter süßer Wein! Ich fühlte mich unendlich müde und schwer wie Blei.
»Bringt Ihr den Stein zu meinem Vater. Sagt ihm, nun braucht er mich nicht mehr. Ich habe meinen Zweck erfüllt.«
Colette zögerte kurz, bevor sie sich bückte und den Smaragd berühr-te. Das Leuchten erstarb, und sie hielt einen grünen Stein in den Händen. Nichts wies darauf hin, daß besondere Kräfte in ihm wohnten, die Macht der Schöpfung und der Zerstörung.
Ich schloß die Augen und bekam gerade noch mit, wie Colette meine Zelle verließ und leise die Tür hinter sich schloß. Dann erlöste mich tiefer Schlaf von der Last, für das Schicksal der Menschheit verantwortlich zu sein, für das meines armen Bruders und für das der schö-
nen Esmeralda. Ich war von allem befreit, wenigstens für ein paar weinselige Stunden.
Kapitel 2
Ein schmerzhaftes Erwachen
Der Wein bewahrte mich vor üblen Träumen, das war sein angenehmes Gesicht. Doch irgendwann zeigte er auch seine unangenehme Seite, und ich erwachte mit tausendfachem Stechen und Hämmern im Schädel: der Preis für das kurzzeitige Vergessen. Ich nahm an, daß es Morgen war, meinem fensterlosen Gemach war das gleich.
Die kleine Lampe auf dem Tisch flackerte mit dem letzten Rest Öl gegen den Tod an. Das Brombeeröl erfüllte die Zelle mit einem vollmun-digen, süßen Duft, und ich spürte, wie sich mein leerer Magen schmerzhaft zusammenzog. Wein berauscht, aber er sättigt nicht.
Unendlich langsam erhob ich mich. Jede noch so kleine Bewegung hielt den Schmied in meinem Kopf zu neuem Wüten an. Mit unsicheren Schritten ging ich zur Tür, da stieß mein rechter Fuß gegen etwas und warf es durch den kleinen Raum. Es war ein Teil des hölzernen Ouroboros.
Der Sonnenstein!
Also war es kein Trugbild meines umnebelten Verstandes gewesen.
Ich hatte tatsächlich, wenn auch höchst zufällig, den lange gesuchten Smaragd entdeckt. Villon und seine Leute mußten sich in heller Aufregung befinden, vielleicht auch im Überschwang des Triumphs. Sie waren den Dragowiten zuvorgekommen; nun konnten sie in Ruhe nach der Weltmaschine suchen.
Ich hob die beiden Hälften der Holzfigur auf und sah in der Um-randung der einen acht Zapfen und in der anderen acht Löcher. Damit konnte man den Ouroboros, das Schutzbehältnis für den Sonnenstein, fest zusammenstecken. So fest, daß mir sein Geheimnis verborgen geblieben war.
Zu meiner Überraschung erzählte
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