Im Schatten von Notre Dame
auf das Papier, das ausgebreitet auf dem Tisch lag. Es war eine Buchseite, ein Holzschnitt von einem gro-
ßen Gebäudekomplex. Im Vordergrund sah man ein paar im freien Ge-lände stehende Häuser, einige davon durch Zäune verbunden, ein paar Bäume und einen kleinen Rundturm mit spitz zulaufendem Helm. Dahinter erhob sich eine Festung mit Wehrgängen auf den breiten Mauern, Türmen und Schwalbennestern für die Schützen. Ein Graben lief um die Mauer, und nur durch eine Zugbrücke vorn links gelangte man ins Innere. Die rechte Ecke der vorderen Mauer wurde von einem runden Donjon beschützt. Man hätte das Ganze für die Trutzburg eines Kriegsherrn halten können, wäre das Innere nicht von einer prachtvollen Kirche und einem großen Kloster, das sich zur Rechten anschloss, beherrscht worden. Am oberen Bildrand, außerhalb der Wehrmauer, lagen eine Kapelle, eine Windmühle und ein paar Felder, zum Teil eingezäunt. Und über allem hatte eine schwungvolle Hand mit roter Tinte einen griechischen Schriftzug hingemalt: ΑΝΑΓΚΗ.
»Dom Frollos Schrift!« entfuhr es mir.
Villon beugte sich vor. »Armand, seid Ihr sicher?«
»Und ob!« Ich berichtete von den Buchstaben, die in Frollos Hexenküche in die Wand geritzt waren. »Dieser Schriftzug hier stammt von derselben Hand.«
»Das ist die endgültige Bestätigung!« rief Villon triumphierend. Es war einer der seltenen Augenblicke, in denen sein gezeichnetes Gesicht aufleuchtete. »Damit habt Ihr unserer Sache einen zweifachen Dienst erwiesen, Armand! Durch Euch wissen wir, daß diese Abbildung Dom Frollo gehört hat. Und ohne Euch hätten wir sie kaum entdeckt. Hättet Ihr Mathias nicht erzählt, daß Sitas letztes Wort der Name ihrer Ziege war, hätte der Herzog Djali nicht nach einer Botschaft durchsucht.«
Allmählich begriff ich und sagte halb laut, mehr zu mir selbst: »Dann hat Sita dieses Bild in Frollos Zelle gefunden. Es muß aus dem Buch stammen, das gestern nacht auf dem Zellenboden lag. Wahrscheinlich hat Sita das Papier in Djalis Beutel gesteckt, als sie die Ziege auf dem Boot im Arm hielt.«
Villon hustete heftig. »Jetzt wissen wir, wo wir die Machina Mundi zu suchen haben.«
»Ihr kennt den Ort?«
»Natürlich, und Ihr müsstet ihn auch kennen. Erinnert Euch an das linke Seine-Ufer, westlich des Quartier Latin. Das Wetter war schlecht, als wir nach Plessis-les-Tours aufbrachen, aber bei unserer Rückkehr müßt Ihr diese Mauern gesehen haben.«
Er hatte recht. Auf dem Papier waren die Gebäude aus einem anderen Blickwinkel dargestellt, aber nun erkannte ich sie. »Saint-Germain-des-Prés!«
Villon nickte knapp. »Ja, die Kirche des heiligen Germain, einstmals Bischof von Paris. Stark befestigt, weil sie und das Benediktinerklo-ster außerhalb der Stadtmauern liegen. Die Normannen, die vor sechshundert Jahren die Seine heraufkamen, sind gleich viermal über Saint-Germain hergefallen.«
»Und warum glaubt Ihr, daß dort die Weltmaschine verborgen ist?«
»Weshalb sonst hätte Frollo ausgerechnet dieses Bild mit der Aufschrift ›ΑΝΑΓΚΗ‹ versehen sollen? Wahrscheinlich tat er es im Überschwang der Gefühle, als die Dragowiten die Maschine entdeckten.
Außerdem gibt es noch eine wichtige Tatsache, die diese Vermutung stützt: Ungesicherten Gerüchten zufolge hielt Raimundus Lullus sich einige Zeit in der Abtei von Saint-Germain auf. Wir wissen, daß Lullus das Wissen der Morgenländer erforschte. Früher, als die römischen Le-gionen das Land beherrschten, stand an der Stelle der Abtei ein Tempel der Isis. Und der Mönch Abbon, von dem wir über die Belagerung durch die Normannen wissen und der in Saint-Germain lebte, schrieb, der Name ›Paris‹ bedeutet ›Stadt der Isis‹.«
Ich räusperte mich und wandte ein: »Soll der Name nicht von dem gallischen Stamm der Parisier rühren, der die Stadt einst gegründet hat?«
Da Villon sich unter einem Hustenkrampf krümmte und roten Auswurf auf den Boden spie, ergriff Leonardo das Wort: »Der Name ist bedeutungslos. Wichtig ist die Tatsache, daß auf den Wiesen von Saint-Germain einst Isis verehrt wurde, deren Statue, dies als Beweis, in der Kirche des Klosters steht.« Er sah Mathias an. »Ich nehme an, Ihr könnt uns mehr über die Bedeutung der Isis erzählen, Herzog von Ägypten.«
Mathias lächelte kaum merklich. »Isis wurde von den Ägyptern verehrt, lange bevor ihr Kult zu den Römern kam. Sie ist die den Tod überwindende Göttin, die Herrin der Welt, die Muttergöttin. Sie
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