Im Schatten von Notre Dame
Ludwigs auftreten, nicht aber als die finstere Gestalt, als die Armand ›le Diable‹ enttarnte? Warum immer wieder diese Ver-schiebungen der Gewichtungen in Hugos Roman, die Anspielungen und Halbwahrheiten? Um vor den einen (den Dragowiten?) Spuren zu verwischen, den anderen (den Wahrhaft Reinen?) aber genügend Hinweise zu liefern? Wir können es nur vermuten.
Victor Hugos Flucht
1851 muß Victor Hugo Frankreich verlassen, aus einem allgemein bekannten Grund, vielleicht aber auch aus einem geheimen. Der bekannte Grund ist seine Gegnerschaft zu Louis Napoleon Bonaparte, der im Dezember 1851 durch einen Staatsstreich das Präsidentenamt erringt und sich schon im darauf folgenden Jahr zum Kaiser Napoleon III.
ausrufen läßt. Über Brüssel geht es 1852 auf die Kanalinsel Jersey und 1855 ins endgültige Exil auf die Nachbarinsel Guernsey, die während der Herrschaft Napoleons III. für fünfzehn Jahre Hugos Refugium ist.
Auch als der Usurpator in Paris ihm 1859 die Amnestie anbietet, bleibt der Dichter auf ›dem gastlichen und freien Felsen‹, wie er Guernsey einmal nannte. Nur aus Trotz gegen Kaiser Napoleon, aus Treue zur republikanischen Sache – oder auch aus einem anderen, verborgenen Grund? War Hugo vor einer dunklen Macht geflohen, weitaus schrecklicher als das neue Regime?
1856 kauft Hugo Hauteville House, ein Anwesen in Guernseys Haupt-stadt St. Peter Port, von dem aus er nicht nur den Hafen, sondern bei gutem Wetter auch das Meer bis zur französischen Küste überblik-ken kann. Zu diesem Zweck baut Hugo sich einen Ausguck unter dem Dach. Man kann nur rätseln, ob er seiner Heimat von hier aus sehnsüchtige Blicke zuwirft oder ob er furchtsam auf einen Verfolger wartet, der jeden Tag in St. Peter Port an Land gehen kann, auf einen Erben Dom Frollos und Olivier le Daims.
Hugo erweist sich als geradezu besessener Innenarchitekt und läßt das ganze Haus so rigoros umgestalten, daß es noch heute eine Attrak-tion für Touristen darstellt; eine Führung durch die innenarchitekto-nische Kuriosität ist der Höhepunkt eines Besuchs in St. Peter Port.
Keine Wand und kein Winkel, kein Tisch und kein Stuhl, denen Hugo nicht den Stempel seines eigenwilligen Geschmacks aufgedrückt hat.
Bedeutsamer als Wände und Decken, die mit nichts anderem verziert sind als mit Porzellantellern und -schüsseln oder Delfter Kacheln, sind die geheimen Fächer und Gänge überall im Haus und die auffällig vielen Spiegel, sechsundfünfzig Stück, die ein ausgeklügeltes System bilden, mit dessen Hilfe Hugo auch in den hintersten Winkel des Hauses spähen konnte – ein würdiger Vorläufer heutiger Videoüberwachung.
Ist Hugo im Exil einem Wahn verfallen? Wartet er auf einen Feind, der niemals kommt? Oder ist der Gegner schon da und bringt unbemerkt das Grauen über Hauteville House? Es gibt Berichte über Gei-sterspuk und spiritistische Sitzungen, die Hugo mit Besuchern und Verwandten abhält. Am auffälligsten und erschreckendsten aber ist das Schicksal seiner Tochter Adèle, die schon auf Guernsey in tiefe Depressionen verfällt, sogar Anzeichen des Wahnsinns zeigt und der Krankheit später gänzlich erliegt. 1863 verläßt sie die Insel für immer, vielleicht eine Flucht und nicht nur Ausfluss ihrer hoffnungslosen Liebe zu dem britischen Leutnant Albert Pinson, dem sie nach Kanada folgt und der eine andere Frau heiratet.
Auf den ersten Blick mag es kühn erscheinen, all diese Geschehnisse in Beziehung zu Hugos Roman Notre-Dame zu setzen. Aber eins darf neben der Summe all der versteckten Hinweise nicht vergessen werden: Wenn man Hauteville House betreten will, muß man durch ein Portal schreiten, das mit Terrakottafiguren aus dem Roman verziert ist. Als hätte Hugo dieses Werk zum Motto seines Hauses, seiner ganzen Flucht erhoben. Sein Sohn Charles nannte diese Verzierung einmal ›das Titelbild von Hauteville House‹.
Hugo verläßt Guernsey erst 1870, nach Napoleons Sturz, kehrt aber noch mehrmals nach Hauteville House zurück. Seine Erben über-schreiben das Anwesen 1927 der Stadt Paris, die es zum Hugo-Mu-seum umgestaltet. Jahre später findet man dort, versteckt in einem der vielen Geheimfächer, die Aufzeichnungen des Armand Sauveur de Sablé.
Armand Sauveurs Bericht
Wie bei Victor Hugo gibt es auch bei Armand Sauveur ein paar Punkte, die mit unserer Überlieferung nicht in Einklang zu bringen sind.
Aber wer irrt da, der spätmittelalterliche, schon stark der Renaissance verhaftete Chronist oder unsere
Weitere Kostenlose Bücher