Im Schatten von Notre Dame
geht hervor, daß er die Handlung ursprünglich ein Jahr später ansiedeln wollte, und viele Hinweise im Text deuten dann auch auf 1483. In einem Gespräch zweier Romanfiguren wird der kalte Winter von 1480
erwähnt, ›vor drei Jahren‹. Und die flämische Gesandtschaft, die nach dem Tod der Maria von Burgund die Vermählung des Dauphins von Frankreich mit Margarethe von Flandern absichern sollte, konnte erst im Januar 1483 und nicht ein Jahr zuvor nach Paris kommen, weil Maria von Burgund erst im März 1482 starb! Daraufhin wurde im Dezember 1482 im Vertrag von Arras die Vermählung beschlossen, die im Januar 1483 im Beisein der flämischen Gesandtschaft von Ludwig und seinem Sohn in Paris beeidet wurde.
Auch sonst ist Hugo in seinen Daten wenig korrekt. Daß die Krö-
nung Ludwigs XI. anno 61 stattfand, wie er schreibt, stimmt noch, wenn er dann aber hinzusetzt »also vor achtzehn Jahren«, würde das die Romanhandlung noch weiter vorverlegen, auf das Jahr 1479 (womit wiederum der Auftritt von Robert d’Estouteville gerechtfertigt wäre).
Hugo schreibt, am 29. März sei der Tag des heiligen Eustachius, aber dieser Tag wird, wie in allen Heiligenkalendern nachzulesen, am 20.
September begangen. Und so weiter.
Man wird einwenden dürfen, daß Hugo einen Roman geschrieben hat, keine wissenschaftliche Abhandlung, und daß Daten und Fakten in einem Roman nicht so wichtig sind wie Sprache, Handlung, Farbe, Emotionen. All das ist richtig, und das penetrante Aufzählen von Unstimmigkeiten wäre geradezu kleinkariert, bliebe nicht der seltsame Umstand, daß Hugo lange und ausführlich für das Buch recherchiert und daß er die Handlung ursprünglich im richtigen Jahr, 1483, ange-siedelt hat. Das Todesdatum Maria von Burgunds ist in den histori-schen Quellen nachzulesen, ebenso, daß der Vertrag von Arras im Dezember 1482 geschlossen wurde. Also hat Hugo die Handlung wissent-lich um ein Jahr vorverlegt, woraus wir folgern dürfen, daß auch viele andere, wenn nicht alle, der oben genannten Ungereimtheiten auf eine Verschleierungsabsicht des Dichters zurückzuführen sind.
Jetzt, da wir das Originalmanuskript des Kopisten Armand Sauveur kennen, können wir die Ereignisse zumindest ungefähr rekonstruie-ren. Offensichtlich ist, daß Hugo dieses Manuskript in die Hände bekam, auf welchen Wegen auch immer, und auf dieser Basis seinen Roman gestaltete. Es gibt Hinweise, daß der junge Hugo in freundschaft-licher Verbindung zu den Nachfahren des Physikers Joseph Sauveur (1653-1716, Begründer des Begriffs ›Akustik‹) stand, der wiederum ein Nachfahre unseres Armand Sauveur sein könnte. Auf diesem Weg ist Armands Bericht vielleicht zu Hugo gelangt. Hugo war noch jung an Jahren, als er Notre-Dame schrieb, hatte aber schon zahlreiche Aus-zeichnungen erhalten und war 1825 Ritter der Ehrenlegion geworden.
Trotz seiner Jugend also ein Mann, dem man Armands geheimen Bericht anvertrauen konnte.
Und mit dem ganzen Elan der Jugend machte er sich an die Arbeit, recherchierte die Hintergründe von Armands unglaublicher Erzählung und fand einen Verleger – Gosselin. Dann aber muß sich etwas ereignet haben, das ihn zögern ließ. Hatte er jetzt erst erkannt, wie bri-sant der Stoff war? Waren gar, von seinen Nachforschungen aufgestört, späte Erben der Wahrhaft Reinen oder der Dragowiten an ihn heran-getreten? Vielleicht erkannte er, daß die Gefahr, die in der Kraft des Sonnensteins lag, noch immer über der Menschheit schwebte. Vielleicht brauchte er auch Zeit, um Spuren zu verwischen, Fährten in Paris und Fährten in Armands Manuskript. Daher die zahlreichen Änderungen in den Daten und auch in der Handlung, in der es keinen direkten Bezug mehr zum Sonnenstein und zur Machina Mundi gibt, wohl aber versteckte Hinweise.
Hugo schreibt in seinem Roman ›von einem Gespenstermönch, der nächtens Paris durchstreifte‹ und läßt Dom Frollo ein wenig unmoti-viert zur Esmeralda sagen: »Das Verhängnis hat dich ergriffen und in das furchtbare Räderwerk der Maschine geworfen, die ich im Finsteren erbaut habe.« Und als sei dieser Hinweis nicht deutlich genug, kommt Hugo auf Frollos alchemistische Aktivitäten zu sprechen und auf die Inschrift ›ΑΝΑΓΚΗ‹, die Hugo, angeblich oder tatsächlich, noch in einer Zellenwand Notre-Dames gesehen hat – in Frollos Hexenküche?
Wenn Hugo aber schon so ausführliche Hinweise auf Frollos düstere Verstrickungen gibt, weshalb läßt er Olivier le Daim zwar als Handlanger König
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