Im Schatten von Notre Dame
interessiert, und doch wurde es eine Spätgeburt mit äußerst schmerzhaften Wehen und Kaiserschnitt.
Am 15. November 1828 schließt Hugo mit dem Verleger Charles Gosselin einen Vertrag, in dem er ihm für ein Jahr das Verlagsrecht an dem geplanten Roman gegen ein Entgelt von viertausend Francs überträgt; damals eine beachtliche Summe. Hugo verpflichtet sich, das Manuskript bis zum 15. April 1829 abzugeben. Aber dann geht er dem Stoff, der ihn zuvor so gefesselt hat, plötzlich – ohne ersichtlichen Grund –
aus dem Weg, schreibt statt dessen Theaterstücke und hat Gosselin am vereinbarten Abgabetermin nichts zu bieten, obwohl er als verheirateter Mann und Vater von drei Kindern das Honorar sehr gut gebrauchen könnte. Ein Jahr lang versucht Gosselin, seinen unwilligen Autor mit immer drängenderen Briefen an die Arbeit zu kriegen, und am 5. Juni 1830 wird endlich ein neuer Vertrag geschlossen. Abgabetermin ist nun der 1. Dezember desselben Jahres, und für jede Woche Verzö-
gerung muß Hugo eine Konventionalstrafe von eintausend Francs bezahlen, ein Viertel des gesamten Honorars!
Am 28. Juli 1830 kommt Hugos nach der Mutter benannte Tochter Adele, die später Vielgeprüfte, zur Welt, und der Autor hat ein weiteres hungriges Maul zu stopfen. Trotzdem kann er sich bis Anfang September nicht entschließen, an die Arbeit zu gehen. Er muß sich regelrecht dazu zwingen. Was im September geschieht, hat seine Frau Adele spä-
ter so dargestellt: »Er kaufte sich eine Flasche Tinte und einen enorm großen grauen Wollschal, der ihn von Kopf bis Fuß einhüllte, schloß seine Gesellschaftskleidung weg, um nicht der Versuchung des Ausge-hens zu erliegen, und begab sich in seinen Roman wie in ein Gefängnis. Er war sehr unglücklich.«
Eingemummt in seinen gigantischen Schal, sitzt Hugo bei offenem Fenster und kühler Herbstluft über der Arbeit. Endlich kann er schreiben, so als hätte er sich vor dem Gang in das ›Gefängnis‹ seines Romans zu einem Entschluß durchgerungen, der seine vorherige Abnei-gung entkräftet hat, wenn er sich dabei auch ›sehr unglücklich‹ fühlt.
Den Abgabetermin kann Hugo zwar wieder nicht einhalten, aber da das Manuskript im Januar 1831 weitgehend fertig gestellt ist, wird ihm die Konventionalstrafe erlassen. Anfang März liegt der Roman Gosselin endlich vor, ab Mitte des Monats wird die zweibändige Erstaus-gabe verkauft, und bis April sind schon sechs Nachauflagen gedruckt.
Die Leser stürzen sich auf das Buch und erfahren erst später, daß es trotz seines gewaltigen Umfangs eine unvollständige Ausgabe ist. Zwei weitere Kapitel, weitgehend theoretische Abhandlungen über Wissenschaft und Alchemie, Architektur und Buchdruck, waren angeblich verloren gegangen und sind, so Hugo, erst im Jahre 1832 zur dreibändigen Neuauflage beim neuen Verleger Renduel wieder aufgetaucht.
Die Hugo-Forschung meint, der Autor habe diese Kapitel aus Verärgerung über Gosselin absichtlich zurückgehalten, weil dieser eine Ausgabe in drei statt in zwei Bänden und eine damit verbundene Hono-rarerhöhung verweigerte. Aber konnte es Hugo, der sich dem eigenen Projekt so lange widersetzt hatte, plötzlich um Geld gehen?
Der Fund von Armand Sauveurs Manuskript läßt vieles in einem neuen Licht erscheinen. Die Abenteuer, die Sauveur schildert, ereig-nen sich vor demselben Hintergrund wie Hugos Roman, doch schnell entwickelt sich eine Geschichte hinter der Geschichte, verborgen im Schatten von Hugos berühmtem Werk. Deshalb schien mir, als mir die Veröffentlichung der Aufzeichnungen angetragen wurde, der Titel Im Schatten von Notre-Dame passend wie kein anderer.
Aber wer sagt uns nun die Wahrheit, Victor Hugo oder Armand Sauveur? Vielleicht keiner von beiden so ganz, denn Sauveur gibt selbst an, gewisse Dinge aus verständlichen Gründen lieber zu verschweigen.
Dennoch erscheint sein Bericht stimmiger als der Roman von Hugo, der sich von etlichen Kritikern Hinweise auf Fehler und Anachronis-men vorhalten lassen mußte.
Bei Hugo tritt als Profos von Paris Robert d’Estouteville auf, der diesen Titel tatsächlich führte. Doch nach seinem Tod im Jahre 1479 konnte er das Amt schwerlich noch 1482 bekleiden, dem Jahr, in dem Hugo seine Handlung ansiedelt. 1482 war längst Jacques d’Estouteville in die Fußstapfen seines Vaters getreten, wie Sauveur es korrekt notiert hat.
Überhaupt das Jahr 1482, das Hugo sogar im Untertitel seines Romans erwähnt – es stimmt einfach nicht. Aus Hugos Manuskript
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