Im Schatten von Notre Dame
Schreiber. Am Lohn soll es nicht fehlen. Kost und Unterkunft habt Ihr frei in Notre-Dame. Bloß wäre es mir am liebsten, Ihr könntet gleich anfangen.«
»Monsieur Armand hat nur ein paar oberflächliche Prellungen und Hautabschürfungen davongetragen«, erklärte die Augustinerin. »Noch ein paar Tage Kopfweh und Gliederschmerz, dann ist alles überstanden.«
»Wenn Ihr wollt, komme ich gleich mit Euch, Maître Frollo«, sagte ich rasch, da ich weder Geld noch eine Bleibe besaß.
Der Archidiakon nickte, und ich wälzte mich aus dem Bett.
»Ihr seht ein wenig abgerissen aus«, sagte Frollo. »Nehmt Ihr mir den Hinweis übel, daß neue und vor allen Dingen saubere Kleidung dem Schreiber des Archidiakons gut zu Gesicht stünde?«
»Keineswegs, Monseigneur. Leider verfüge ich nicht über die Mittel, diesem Hinweis zu folgen.«
»Die Strolche, die Euch überfielen, haben Euch ausgeraubt, wie?«
Ich nickte, weil es mir langwierige Erklärungen ersparte.
Frollo entnahm einer Ledertasche an seinem Gürtel zehn Sols und zählte sie in meine Hände. »Diese Anzahlung auf Euren Lohn dürfte als erstes genügen. Geht, kleidet Euch neu ein, und meldet Euch heute Abend bei mir.«
Ich stammelte ein paar Dankesworte und griff nach meiner Geldkatze, um den unerwarteten Reichtum zu verstauen. Als meine Rechte unter das Wams fuhr und das gefüllte Leder ertastete, erstarrte ich in der Bewegung. Die Gabe des sterbenden Zölestiners! Fast hätte ich sie ans Tageslicht befördert und mich verraten.
»Was habt Ihr?« fragte Frollo und betrachtete mich mit forschendem Blick.
»Mich durchfuhr nur gerade der Gedanke, wie sehr ich dem Allmächtigen für die Gnade dankbar sein muß, die er mir mit Eurem Angebot erwiesen hat, Maître Frollo.«
»In der Tat. Betet vor dem Altar und dankt dem Herrn, wenn Ihr die Kathedrale betretet.«
Damit verließ er den Krankensaal. Und auch Schwester Victoire schien nicht geneigt, sich länger mit mir zu unterhalten. Sie verabschiedete sich mit knappen Worten und wandte sich anderen Kranken zu. Was ich bedauerte, denn gern hätte ich erfahren, was meinen neuen Dienstherrn mit dem unheimlichen Glöckner verband.
Als ich aus dem Hospital trat, fiel mein Blick auf die Kathedrale. Ihre Türme stachen ins wolkenlose Blau des Himmels, als wollten sie sich mit der Sonne vereinigen. Trotz der wärmenden Strahlen von Mutter Sonne fröstelte ich. Dom Claude Frollo erschien mir nicht ganz geheuer. Noch beunruhigender aber war der Gedanke, fortan mit dem schrecklichen Quasimodo unter einem Dach leben zu sollen.
Kapitel 6
Blut, Sand und Wasser
Bald wurde mir klar, weshalb ich nordwärts strebte und meine Schritte über die Notre-Dame-Brücke in die Neustadt lenkte. Eine Menschenmenge drängte in diese Richtung wie die Strömung eines Flusses, in der ich nur ein winziger Tropfen war und willenlos mitgerissen wurde. Aus Angst, Frollos Münzen ebenso rasch zu verlieren wie die des Geistermönchs, ließ ich sie jetzt doch in die Geldkatze fallen, die ich fest unter mein Wams drückte. Das Gedränge erlaubte mir nicht, einen Blick auf den Gegenstand zu werfen, der unter den Sols lag.Das Ziel der Menge war die Grève. Der große Platz am Nordufer der Seine schien noch überfüllter als tags zuvor. Über den Köpfen, Hüten und spitzen Weiberhauben mit ihren Bändern, Federn und anderem Firlefanz erhob sich starr und beinahe stolz das Galgengerüst, Mittelpunkt des allgemeinen Geschiebes, Geschreis und Gegaffes. Der Galgen hielt all dem ruhig und würdig stand.
»Was ist los? Was soll geschehen?« fragte ich einen Vorbeieilenden und hielt ihn einfach am altmodisch weiten Ärmel seines groben Kittels fest. An den kräftigen, furchigen Händen und der sonnengebräunten, windgegerbten Haut erkannte ich den Bauern, der wohl zum Dreikönigsfest nach Paris gekommen war und heute noch in der Stadt aus-hielt, um die sich anbahnende Darbietung zu verfolgen.
»Weiß nicht«, knurrte er, unwillig über die Störung seines Bestrebens, sich einen Platz nahe der Hinrichtungsstätte zu sichern. »Schon seit der Frühe stehen die Scharwächter am Galgen. Schätze, heute wird einer baumeln. Und jetzt lasst mich, damit ich sehen kann, wie der Pechvogel im Todeskampf die Augen verdreht! Wenn ich ganz dicht rankomme, kann ich vielleicht ein Kleidungsstück des Toten erhaschen. Es heißt, schmerzende Glieder, die man darin einwickelt, heilen über Nacht.«
Der Bauer gebrauchte seine starken Hände und seine Ellbogen, um sich
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