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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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jung, keine zwanzig, und studierte nach der Theologie mit Eifer die Medizin, die freien Künste und die Sprachen, als der Herrgott beschloß, ihn einer schweren Prüfung zu unterziehen. Es war im heißen Sommer von 1466, als der Pesthauch über die Stadt Paris und die ganze Grafschaft wehte. Auch Frollos Eltern wurden vom Schwarzen Tod hinweggerafft, und plötzlich oblag ihm die Sorge für seinen kleinen Bruder Joannes, der noch in den Windeln lag.
    Dominus Frollo ließ ihn von einer Müllerin stillen und aufziehen. Und als sei das noch nicht genug, bescherte ihm das Schicksal kein Jahr später einen zweiten Sohn, Quasimodo. Es war …«
    Die Augustinerin verstummte schlagartig. Ihre eben noch rosigen Züge wurden bleich, die Augen starr und geweitet, als blicke sie ins Antlitz eines Geistes. Und tatsächlich mochten die asketischen Züge der dunkel gekleideten Gestalt, die hinter meinem Lager aufgetaucht war, den Glauben an ein jenseitiges Wesen nähren.
    Ich aber wußte seit dem vergangenen Abend, als ich den ernsten, verschlossenen Mann auf dem Grève-Platz gesehen hatte, daß er Dom Claude Frollo war, Archidiakon von Notre-Dame. Unmöglich zu sagen, wieviel von unserem Gespräch er mit angehört hatte. Seine Augen lagen kalt in ihren tiefen Höhlen, und seine Züge waren unbewegt, wie versteinert.
    »Verzeiht, wenn ich Euch unterbreche, Schwester Victoire«, sagte Claude Frollo mit einer Stimme, die jegliche Gefühlsregung, auch die des Bedauerns, vermissen ließ. »Aber ich suche einen Patienten namens Armand Sauveur, und man sagte mir, Ihr hättet ihn in Eure Obhut genommen.«
    Die Augustinerin schluckte und nickte, brachte aber kein Wort über ihre bebenden Lippen. Sie schien mehr als Ungemach darüber zu verspüren, sich über den Archidiakon ausgelassen zu haben. Ich begriff es nicht ganz, aber sie wirkte regelrecht verängstigt. Wie ein kleines Kind, das sich in einem kalten Winter unversehens einem in die Stadt ein-gedrungenen hungrigen Wolf gegenübersieht. Vielleicht übte er diese Wirkung auf die Nonne aus, weil er ein G-Mensch war, geheimnisvoll und schwer einzuordnen, mal scheinbar offen, dann mit wenig Aufwand verschlossen. Und neigte er sich vor, hatte er einen am Haken.
    »Ich bin Armand Sauveur«, sagte ich und hoffte, mich damit nicht dem Henker auszuliefern.
    Kaum wahrnehmbar huschte der Anflug eines Lächelns über Frollos maskenhaftes Gesicht. »Sehr schön, Monsieur Sauveur. Ihr seid ein erfahrener Kopist und Schreiber aus Sablé und sucht eine neue Stellung?«
    »Das ist wahr«, antwortete ich verblüfft. »Aber woher wisst Ihr das, Monseigneur?«
    »Euer Freund richtete es einem meiner Diakone aus.«
    »Mein Freund? Etwa der Bettler?«
    »Derselbe.«
    »Ihr wisst nicht zufällig seinen Namen, Dom Frollo?«
    Frollos Augen verengten sich vor Verwunderung, daß ich nach dem Namen meines eigenen Freundes fragte. Hatte ich einen Fehler begangen? Doch der Archidiakon sprach ganz ruhig weiter: »Soviel ich weiß, nannte er sich Colin.«
    »Colin!« ächzte ich. »So ein dürrer Kerl mit bärtigem Gesicht?«
    »So wurde er mir beschrieben.«
    Wahrlich, dies war ein Morgen der Überraschungen. Vergeblich suchte ich zu ergründen, weshalb der alte Gauner mir diesen Freund-schaftsdienst erwiesen hatte. Hatte er mich zufällig nach meinem Sturz mit der Tonne gefunden und zum Hôtel-Dieu gebracht, um den an mir begangenen Diebstahl zu vergelten? Doch konnte es solch einen Zufall geben? Und seit wann hatte ein Dieb so viel Ehre im Leib?
    »Ihr scheint einige Mühe zu haben, Euch Eures Freundes zu entsinnen, Monsieur Sauveur«, sagte Frollo in fragendem Ton.
    »Das sind vielleicht die Nachwirkungen der Kopfhiebe, Monseigneur«, erwiderte Schwester Victoire, deren Blick in einer Mischung aus Ehrerbietung und Furcht auf dem Archidiakon ruhte.

    »Ach ja, Ihr seid unter die Räuber gefallen«, nickte Frollo. »Um das Ganze abzukürzen: Ich suche dringend nach einem neuen Schreiber. Ihr habt vielleicht gehört, daß Monsieur Pierre Gringoire, der bis vor kurzem für mich arbeitete, unter die Mysteriendichter gegangen ist. Wenn auch sein gestriges Debüt nicht zum durchschlagen-den Erfolg geraten ist, steht nicht zu erwarten, daß er in meine Dienste zurückkehrt. Falls Eure Verletzungen nicht zu stark sind, Monsieur Sauveur, könntet Ihr mein Mann sein. Zumal Ihr aus der Fremde kommt und hoffentlich nicht so versessen auf Weiber und Wein seid wie die hiesigen, von zu vielen Schenkenbesuchen verdorbenen

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