Im Schatten von Notre Dame
schmalen Schlitz ins Innere des Prangerwürfels gestiegen waren, mit der Drillfolter zu beginnen. Sie drehten die Achse des schweren Ei-chenholzrades, auf dem Quasimodo hockte. Der Glöckner begann, sich langsam und gleichmäßig zu drehen, so daß jeder Gaffer in den Genuss des krummen Rückens und jener Fratze kam, die man nur mit einigem Wohlwollen als menschliches Antlitz bezeichnen konnte.
Als sich ihm der verwachsene Rücken darbot, schlug der Foltermeister zu. Es wirkte nicht besonders kraftvoll, aber das täuschte. Die Wucht des Schlags lag nicht in der aufgewendeten Körperkraft, sondern in der Technik, die Pierrat Torterue meisterlich beherrschte.
Neun feine Peitschenriemen pfiffen durch die Luft und bissen sich mit ihren Knoten und Nägeln in der Haut des Buckligen fest.
Der Vulkan erwachte! Ein Ruck ging durch Quasimodos Leib, als wolle er sich erheben, und die Ketten klirrten laut. Für einen langen Augenblick hielt das Volk den Atem an und erwartete die Rache des Ungeheuers, die Vergeltung für Schimpf und Spott. Niemand hätte Quasimodos Wut entkommen können, so dicht gedrängt standen die Gaffer. Aber die Ketten waren stark genug, und die Stricke hielten den Glöckner krumm.
Hilflos drehte er sich vor der bereits wieder jauchzenden Menge, während Pierrat Torterue Schlag auf Schlag niedergehen ließ. Quasimodo zuckte unter den Hieben zusammen, aber er ächzte nicht, stöhn-te nicht, jammerte nicht. Nur sein gesundes Auge war weit aufgerissen und leuchtete unter der wuchernden Braue hervor. Wert der Blick traf, für den war es wie ein Peitschenhieb des Foltermeisters. Erstaunen mischte sich in diesem Blick mit Traurigkeit, Traurigkeit mit Bosheit und Bosheit mit der wilden Gier nach Vergeltung.
Die Knoten und Nägel der neunschwänzigen Katze rissen unzählige Furchen in den Rücken des Buckligen. Rote Rinnsale entströmten den Wunden und ergossen sich über den höckrigen Buckel wie Lava-bäche. Tropfen um Tropfen, Bach um Bach rann das Blut aus Quasimodos zerfetzter Haut, doch die Folter wollte kein Ende nehmen. Unendlich langsam rieselte der rote Sand vom oberen Behälter in den unteren. Körnchen für Körnchen quälte sich durch den feinen Durchlass, ein jedes rot wie Blut. Das Auge des Zyklopen schloß sich irgendwann, Quasimodos Kinn sackte auf die Brust, und wie ein Toter ließ er das Gewitter aus Peitschenhieben und anfeuernden Rufen über sich ergehen.
Während ich dem zusah, unfähig, aus der Menge zu entkommen oder auch nur die Augen zu verschließen, fragte ich mich unentwegt, ob der Richtige auf dem Holzrad hockte. Ich sah die Szenerie des vergangenen Abends deutlich vor mir. Quasimodo war bei dem Überfall nicht allein gewesen. Ich wußte nicht, welche Rolle in dem Schauerstück Pierre Gringoire zukam, aber die vermummte Gestalt, die den Glöckner begleitet hatte, mußte zumindest als sein Komplize betrachtet werden. Wer immer dieser Komplize war, Quasimodo litt für ihn mit, erduldete Qualen, die für zwei und mehr ausgereicht hätten.
Nach einer Ewigkeit hob ein schwarz gekleideter Reiter auf einem schwarzen Pferd, ein Gerichtsdiener des Châtelet, seinen Ebenholzstab und zeigte auf die Sanduhr. Das obere Gefäß war leer, im unteren erhob sich ein spitzer roter Kegel.
Mit bedauernder Miene – wohl weil er den Delinquenten nicht zu Schmerzensschreien und Gnadengewimmer gepeitscht hatte – ließ Maître Torterue sein rotgefärbtes Werkzeug sinken und das Blut ab-tropfen. Er schüttelte die Neunschwänzige, und es schüttelte mich, als rote Tropfen in mein Gesicht spritzten. Das Blut des Buckligen, des Teufelssohns!
Ein Fußstampfen des Foltermeisters, und das Drillrad hielt mit einem leisen Knarren inne, ohne daß der Gepeinigte auch nur eine Regung zeigte. Die Drillfolter war vorüber, die Geißelung auch, aber nicht die Qualen des Glöckners. Bevor Torterue den Pranger verließ, drehte er die Sanduhr um, und die Stunde von Quasimodos Zurschaustel-lung begann. Rot rann der Sand, und rot rann das Blut.
Da wenigstens gab es ein wenig Erbarmen für Quasimodo, wenn auch nicht aus gutem Herzen geboren, sondern aus den Buchstaben des Gesetzes. Die beiden Folterknechte, die das Rad gedreht hatten, wuschen die Schultern des Glöckners und strichen eine dicke Schicht gelber Paste auf den zerschundenen Rücken. Ich konnte zusehen, wie die Wunden sich schlossen. Bevor Torterues Helfer die ›Leiter‹ hinabstiegen, warfen sie der armen Kreatur ein seltsames Hemd über den Rücken,
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