Im Schatten von Notre Dame
näher an den Galgen heranzuschieben. Ich nutzte die von ihm aufgerissene Gasse und folgte ihm. Wollte ich mich auch am Tod eines anderen Menschen ergötzen? War es die pure Neugier, die mich antrieb? Oder ahnte, spürte ich tief in meinem Innern, daß das Bevorstehende eng mit meinem eigenen Schicksal verknüpft war, mit dem, was Paris für mich bereithielt?
Vielleicht war es einfach nur die Erleichterung darüber, daß ich selbst dem Henker entgangen war. Heute weiß ich es nicht mehr zu sagen, damals machte ich mir keine Gedanken darüber.
Gaffer und Gaukler, ehrbare Damen und Dirnen, Spielleute und Taschelzieher wurden beiseite gedrängt, als unter Trompetenstößen und Trommelschlägen ein bewaffneter Trupp der Scharwache aus der Rue de la Vannerie marschiert kam. Mit Huftritten und Stockhieben ver-schafften sich die Soldaten des Profoses Platz, wo die Menge nicht rasch genug zurückwich. In ihren prächtigen Waffenröcken aus vio-lettem Kamelott, deren Brust ein großes weißes Kreuz zierte, wirkten die Scharwächter wie die Vollstrecker des Jüngsten Gerichts.
Für den armen Delinquenten, der auf einen Maultierkarren gebunden war, mochten sie genau das sein. Gefesselt und krummgeschlossen, war er von dort, wo ich stand, nur undeutlich zu sehen. Eine un-förmige Masse aus Fleisch und Haaren, Kleidern, Stricken und Ketten.
Ich erkannte ihn erst, als sein Name über die Menge flog, von Mund zu Mund mit erstaunten Rufen weitergegeben.
»Quasimodo!« – »Er ist’s, wahrhaftig, der Glöckner von Notre-Da-me!« – »Der Bucklige!« – »Der Teufelssohn!« – »Der Sodomit!« – »Der Galgenstrick! Jetzt findet er sein verdientes Ende!« – »Ja, hängt das Scheusal! Aber nehmt ein doppelt dickes Seil, damit sein schwerer Höcker es nicht zerfasert!«
Das anfängliche Entsetzen über den Anblick des Delinquenten verwandelte sich in Hass und Hohn, in Spott und Schadenfreude, je nä-
her der Karren zur Richtstätte rumpelte und je deutlicher die Gaffer erkannten, daß der Bucklige wehrlos war unter den festen Stricken und Ketten. Sie saßen so stramm, daß sie in sein verwachsenes Fleisch schnitten. Blut tränkte die zerrissene Kleidung.
Der Abscheu, den der Anblick des Buckligen unweigerlich hervor-rief, wich von mir. Ich empfand Mitleid für die geschundene Kreatur, wenn ich mir auch sagte, daß sein gestriges Vergehen, der Überfall auf la Esmeralda, Strafe verdient hatte. Aber gleich der Strick? Niemand war durch Quasimodos Tat geschädigt worden, mochte der Vorfall auch nur durch das Auftauchen der Bogenschützen einen glücklichen Ausgang genommen haben. Wenn Quasimodo dafür gehängt wurde, was taten sie in Paris dann erst mit einem Mörder? Eine Überlegung, bei der sich meine Kehle trocken anfühlte, wie zugeschnürt.
Ein Raunen ging durch die Menge, und Erleichterung erfasste mich, als die Soldaten den Karren nicht zum Galgen führten. Der Trupp hielt vor dem Pranger an, einem etwa zehn Fuß hohen, innen hohlen Würfel aus grobem Mauerwerk. Die Piken und Hellebarden hielten das Volk zurück, während ein bunt gekleideter Reiter ein Papier entrollte.
»Das ist Michel Noiret«, erscholl es irgendwo hinter mir, »der vereidigte Ausrufer des Königs!« – »Was gibt’s, Messire Noiret? Warum bringt Ihr den Buckligen nicht zum Galgen, nur zum Pranger?« –
»Nicht vortragen, lieber hängen!«
Der Ausrufer brachte die Menge mit kräftiger Stimme zum Schweigen und verlas das zu vollstreckende Urteil: »Quasimodo, auch als Glöckner unserer Kathedrale Notre-Dame bekannt, ist folgender Vergehen angeklagt und für schuldig befunden worden: primo der Stö-
rung der Nachtruhe, secundo des gewalttätigen und unsittlichen Übergriffs gegen ein loses Weib, tertio des Widerstands und Ungehorsams gegen die Bogenschützen unseres hochverehrten Herrn Königs.
Die zur Mittagszeit auf dem Grève-Platz zu vollstreckende Strafe lautet auf eine Stunde Pranger, während deren die Drillfolter angewandt wird und der Verurteilte auszupeitschen ist. Nach Ablauf dieser Stunde ist er dem Volk noch für eine weitere Stunde zur Schau zu stellen.
So erwogen und beschlossen am siebten Januar Anno Domini 1483
im Gerichtshof des Grand-Châtelet vom ehrwürdigen Herrn Jacques d’Estouteville, königlicher Profos der Stadt Paris.«
Das Urteil gefiel dem Volk. Es verhieß ein hübsches Schauspiel und eine Entschädigung dafür, daß man vergeblich auf das brechende Genick eines Baumelnden gehofft hatte. Unter
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