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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Beifallsrufen wurde Quasimodo über die ›Leiter‹, wie man die Treppenstufen aus unbehauenem Stein nannte, auf die Sandsteinplatten des Prangerwürfels geführt.
    Der Glöckner schien von jedem Willen, von jeder menschlichen Regung verlassen, er gehorchte wie ein gefügiges Stück Vieh. Was mochte in dem Wesen vorgehen, das gestern noch am selben Ort der von denselben Menschen gefeierte Narrenpapst gewesen war? Oder ging in dem unförmigen Kopf gar nichts vor? War das Gehirn verkrüppelt wie der Körper?
    Auf dem Prangerwürfel erhob sich das große, waagerecht stehende hölzerne Rad für die Drillfolter. Quasimodo mußte auf dem Rad nie-derknien und wurde in dieser Stellung, die Arme auf den Rücken ge-zerrt, angebunden. Als die Scharwächter ihm mit rauen Griffen Wams und Hemd vom Leib rissen, ging ein Aufstöhnen durch die Menge.
    Bekleidet war der Glöckner schon eine groteske Erscheinung, doch sein nackter Oberkörper wirkte ungleich schauerlicher. Man hätte den Blick abwenden mögen, wäre die Gier, das Scheusal in seiner ganzen Hässlichkeit zu betrachten, nicht so groß gewesen. Und der Glöckner war hässlich!
    Wie ein vulkanischer Berg erhob sich der Höcker auf seinem Rük-ken, umgeben von kleineren Hügeln, die wie erstarrte Lava aussahen.
    Jetzt schlief der Vulkan, doch konnte er nicht mit der ganzen Wut und Kraft, die das Ungeheuer Quasimodo aufzubringen vermochte, jederzeit erwachen?
    Sobald das Erschrecken über diesen Anblick verwunden war, erhob sich erneut das Spottgeschrei: »Der Kerl schleppt ein ganzes Gebirge mit sich rum!« – »Ein Berg, den man wahrlich zum Propheten bringen könnte!« – »Wenn das ein Mensch ist, sind wir andern keine!«

    In der Masse der Schreihälse entdeckte ich ein pfiffiges Gesicht unter blonden Locken, das ich sogleich erkannte: Jehan Frollo de Molendino oder Joannes du Moulin. Der Bruder meines neuen Dienstherrn. Und der Bruder Quasimodos, wenn ich ihn richtig verstanden hatte. Aber weshalb verspottete er den Glöckner, seinen Bruder?
    Ein untersetzter, stämmiger Mann in der Tracht der Scharwache erstieg den Pranger, und die Menge raunte sofort seinen Namen: Maître Pierrat Torterue, vereidigter Foltermeister am Châtelet. Die erste Stunde der Züchtigung begann, als er eine große schwarze Sanduhr in eine Ecke stellte. Roter Sand rieselte durch den dünnen Kanal vom oberen Glasbehälter in den unteren.
    Beifall brandete auf, als der Foltermeister seinen violetten Rock aus-zog und mit der Rechten nach einer Peitsche griff, einer neunschwänzigen Katze. Die hell glänzenden, geflochtenen Lederriemen waren mit Knoten und metallenen Nägeln bestückt, um auf und in der Haut des Delinquenten einen besonders starken Eindruck zu hinterlassen. In aller Ruhe krempelte Torterue mit der linken Hand den rechten Hemds-
    ärmel bis zur Achselhöhle auf.
    »Lasst die Katze endlich zubeißen, Maître Torterue! Aber nicht mit dem Maul, sondern mit den Schwänzen. Dort sitzen die Zähne, die besonders hübsch zwicken.« Der ungeduldige Schreihals war Jehan Frollo jetzt deutlich zu sehen, weil er sich weit über die Köpfe der Menge erhob. Er hockte auf den breiten Schultern eines anderen Mannes, in dem ich seinen Freund Robin Poussepain erkannte. Jehans Züge spie-gelten Schadenfreude und Gemeinheit, glänzten in Erwartung des Be-vorstehenden vor Entzücken.
    Wäre ich nicht selbst ohne Eltern gewesen, hätte ich ihn zu gern als lebenden Beweis dafür betrachtet, daß aus einem Kind, welches die Güte der Mutter und die züchtigende Hand des Vaters entbehren muß, nichts werden kann. Mich ergriff ein Abscheu, der nicht der unglücklichen Kreatur auf dem Pranger galt, um so mehr aber Joannes du Moulin. Herzenskälte und Gemeinheit strahlten von ihm aus wie eine Pest-seuche. Hatte der Schwarze Tod, der seine Eltern mordete, ihm das Leben gelassen, nur um sein Herz zu vergiften?

    »Tretet nur heran, meine Herren und Damen«, fuhr Jehan im Tonfall eines Marktschreiers fort. »Kommt und seht, wie man Maître Quasimodo, den Glöckner meines Bruders Dom Claude Frollo, auf allerhöchsten Befehl geißelt. Beachtet dieses ungewöhnliche Beispiel orien-talischer Architektur, in das sich gleich die neun Schwänze der Katze verbeißen werden. Dieser prächtige, an ein Kuppeldach gemahnende Rücken und diese Beine, die wie gewundene Säulen anmuten!«
    Das allgemeine Gelächter erstarb, als Maître Torterue mit dem Fuß aufstampfte, das Zeichen für seine beiden Gehilfen, die durch einen

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