Im Schatten von Notre Dame
Mann, von dem ich nicht mehr wußte, als daß er ein Liederdich-ter war. Freilich einer, der mehr der Gosse als den Tafeln der feinen Herrschaften zugeneigt gewesen war und dessen Lieder nicht auf gro-
ßen Gesellschaften, dafür aber in allen Schenken Frankreichs gesungen wurden.
»Warum wird von diesem Kerl nur soviel Aufhebens gemacht!«
schnaubte ich.
Margot warf mir einen strafenden Blick zu. »Niemand hat solche Lieder gedichtet wie er, nicht vor ihm und nicht nach ihm. Es sind Lieder der Menschen hier.« Wieder umarmte sie ihre ganze Schankstube.
»Nicht der falsche Minnesang der hohen Herren und Edelfrauen. Lieder von Luden und Dirnen, von Wein und Rausch – und von den Coquillards.« Bei den letzten Worten schaute sie Falcone an.
»Er schrieb also über das, was er kannte«, sagte ich mißmutig.
Falcone bemerkte: »Was man den wenigsten Dichtern zugute halten kann und an Villon daher um so mehr schätzen muß.«
»Aber er war auch ein großer Gelehrter, Magister an der Sorbonne«, ereiferte sich Margot, die sich in Fahrt geredet hatte.
»Ein Magister und ein Messerheld, wie ich schon sagte.« Falcone biss in seinen Käse. »Ein Mann mit vielen Berufen, vielen Namen und, glaubt man den Gerüchten, vielen Leben.«
»Wieso mit vielen Namen?« erkundigte ich mich.
»Seinen richtigen Namen kennt wohl nur er selbst, wenn überhaupt.
In den Akten der Sorbonne finden wir ihn auch als François de Montcorbier – François vom Galgenhügel, wahrlich ein schicksalhafter Name! Später trat er als François des Loges hervor, nannte sich aber auch Michel Mouton. Mit dieser Liste könnte ich noch eine ganze Weile fortfahren, und selbst dann würde unsere prächtige Margot insgeheim darüber lachen, wie wenig man am Châtelet weiß.«
»Ich lache niemals über die Polizei«, entrüstete sich Margot.
Falcone winkte ab. »Niemals dann, wenn die Polizei zugegen ist.«
»Und Villon?« fragte ich. »Wieso nennt man ihn so, wenn er doch viele Namen hatte?«
»Man weiß nicht, mit wem seine Mutter verheiratet war, als er geboren wurde«, antwortete der Leutnant. »Falls sie verheiratet war. Sie fand einen Gönner für den kleinen François, einen achtbaren Pflege-vater, der dem Kind sogar seinen guten Namen gab, wenn’s auch nicht viel nützte. Guillaume de Villon war Kaplan an der Kirche Saint-Be-noît-le-Bétourné, drüben an der Sorbonne, und soll, glaubt man einem weiteren Gerücht, ein natürliches Recht gehabt haben, den kleinen François nach sich zu benennen. Nun, vielleicht hat Villon seine zwiespältige Seele von diesem frommen Mann geerbt.«
»Was redet Ihr geschwollen, Falcone?« fragte Margot zwischen zwei Schlucken aus dem Weinkrug.
»Guillaume de Villon war Kaplan, aber auch dem Leben zugetan, möglicherweise mehr als seinem Glauben. Wegen Verbreitung einer Irrlehre wurde er seines Amtes enthoben.« Spielerisch legte Falcone die Hand vor den Mund und fuhr im Flüsterton fort: »Genaues wurde nicht bekannt, aber er soll sich am Rande der Ketzerei bewegt haben.«
Margot wollte in Gelächter ausbrechen, verschluckte sich und prustete über den ganzen Tisch, daß ein weinroter Regen auf Falcone und mich niedersprühte. »Seid Ihr ein Polizist, Leutnant, oder ein Klatsch-weib? Bei der Seele meiner längst vermoderten Mutter, ich hab noch nie so viele Tratschereien an einem Abend gehört!«
»Eure Schuld, verehrte Margot. Da Ihr uns die Tatsachen über Villon vorenthaltet, müssen wir mit Vermutungen vorlieb nehmen.«
Margot schlug mit der Faust auf die Tischplatte und stieß mit wein-schwerer Zunge hervor: »Es gibt keine Tatsachen!«
»Werdet nicht philosophisch, das steht Euch nicht«, spottete Falcone.
»Spielmann!« Margot winkte den Lockenkopf an unseren Tisch; mir fiel die seltsame Form seiner Laute auf, wie der Kopf einer Ziege oder eher noch eines Pferdes und glänzend wie Silber. »Spielmann, die Herren wollen Tatsachen über Villon hören. Also, bring Ihnen die Tatsachen zu Gehör!«
Der Musikant griff in die Saiten, und zwar mit der linken Hand, und sang mit reiner Stimme:
»Schenk ewig Ruhe ihm, o Herr,
und auch dein ewig leuchtend Licht,
das ist von nun sein Leibgericht,
kein Lauchhalm schmeckt ihm da so sehr.
Er kniet vor dir mit kahlem Haupt,
geschält wie eine nackte Rübe,
ewig Frieden sei ihm erlaubt,
daß nichts dein ewig Licht betrübe.
Das Schicksal trieb ihn ins Exil,
trat ihn ganz kräftig in den Arsch,
obwohl sein Widerstand war barsch,
das nenne ich kein
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