Im Schatten von Notre Dame
gebraucht.« Eben noch leutselig, wurde Falcone mit den folgenden Worten schärfer im Ton: »Diese Karte fand ich heute im Mund des toten Mesners und eine von derselben Art vor drei Wochen zwischen den Lippen einer toten Augustinerin im Hôtel-Dieu. Auch ihr hatte man die Kehle durchgeschnitten.«
»Der Herr sei mit ihr, und auch der heilige Augustinus«, sagte Margot, blickte himmelwärts und spielte die Betroffene.
»Mich erinnert die Vorgehensweise an die Coquillards«, fuhr Falcone unbeirrt fort. »Was damals die Muschel war, ist jetzt die Stabzehn.«
Margot lächelte unverbindlich und entblößte lückenhafte Reihen verfaulter Zahnstummel. »Die Zeiten wechseln, aber die Menschen bleiben gleich.«
»Auch die Coquillards?«
»Die Muschelbrüder existieren nicht mehr, Herr Leutnant. Viele Eurer fleißigen Kollegen haben der Bande damals den Garaus gemacht.«
»Vielleicht hat der Arm des Gesetzes nicht alle erreicht.«
»Woher soll ich das wissen?«
»Bei der Dicken Margot gingen die Muschelbrüder ein und aus!«
trumpfte Falcone auf. »Und hier hat François Villon gehaust, von manchen der König der Coquillards geheißen.«
»Warum grabt Ihr Leichen aus, die längst zu Staub zerfallen sind?«
Margot sprach mit einem spöttischen Unterton, aber ich glaubte zu bemerken, wie sich ihre teigigen, mit ganzen Töpfen von weißer Schminke verklebten Züge verhärteten.
Falcone sah sie forschend an. »Ich wußte nicht, daß Villons Leichnam je gefunden wurde. Belehrt mich ruhig und sagt mir, wann und wo Euer Buhle sein Leben ausgehaucht hat. Mit dieser Nachricht könn-te ich vor dem Profos ganz hübsch reüssieren.«
»Ihr wisst selbst, daß man von Villon seit fast zwanzig Jahren nichts mehr gehört hat. Viele sagen, er ist damals verreckt, hat sich die Lunge aus dem Leib gehustet. War die letzten Jahre immer am Husten, der Kerl. Die Flucht durch die kalten Wälder, die lange Zeit im Kerker, das alles war nicht gut für ihn, nee.«
Margot schnitt mit Falcones Messer ein Stück vom Braten ab und kaute heftig schmatzend darauf herum, alles andere scheinbar verges-send, auch Villon.
»Sein Tod ist nicht bewiesen«, sagte Falcone in belehrendem Ton.
»Vor zwanzig Jahren verließ Villon Paris, nach seinen jüngsten Schur-kereien nur knapp dem Galgen entgangen und auf zehn Jahre verbannt.
Seine Spur hat sich von da an verloren, da habt Ihr recht, Margot. Aber als habe er sich mehrfach aus sich selbst geboren, hört man seitdem aus allen Himmelsrichtungen die wildesten Gerüchte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie Euch nicht zu Ohren kommen.«
»Ich höre viel Getratsche und kann mir längst nicht alles merken.«
Margot pulte einen Fleischfaden zwischen den schwarzen Zähnen hervor und verschlang ihn. »Was für Gerüchte meint Ihr?«
»Daß er sich im Flandrischen einer Schaustellerschar angeschlossen hat und in Mysterienspielen den Judas Ischariot und den Apostel Pau-lus gibt. Zwei Rollen, die viel gemeinsam haben. Der eine verriet Jesus, der andere sich selbst.« Falcone trank einen Schluck und sagte: »Andere Gerüchte sagen, Villon habe sich beim Sultan Ibram Ali als We-sir verdingt. Oder er habe sich in das Kloster einer geheimen Bruderschaft zurückgezogen.«
Margot hatte dem Braten ein dickes Käsestück folgen lassen, das ihre Kiefer nun zermahlten. Ich glaubte zu bemerken, daß sie bei Falcones letztem Satz für einen Augenblick wie erstarrt innehielt. Doch es mußte eine Täuschung gewesen sein; schon kaute sie wieder und fragte zwischendrin: »Hat König Ludwig nicht siebenundsechzig, vier Jahre nach Villons Verbannung, eine allgemeine Amnestie erlassen, um die vom Schwarzen Tod entvölkerte Stadt wieder mit Menschen zu füllen?
War ein Mann wie Villon, dessen Welt die Gassen von Paris waren, nicht augenblicklich zurückgekehrt, war er noch am Leben gewesen?«
»Vielleicht war seine Welt eine andere geworden. Vielleicht hatte er Gründe, nicht zurückzukehren.« Falcone beugte sich vor, der Falke belauerte seine Beute. »Vielleicht ist er längst wieder in Paris, hält sich aber im verborgenen.«
»So ein Blödsinn!« Margot lachte mit solcher Inbrunst, daß mir ein paar Käsebrocken um die Ohren flogen. »Nach der Amnestie hat er nichts mehr zu befürchten.«
»Nicht von des Königs Soldaten, aber ein Mann wie Villon hat sicher viele Feinde.«
Ich fühlte mich bei dieser ganzen Unterhaltung ziemlich überflüssig und ärgerte mich darüber. Falcone und Margot stritten über einen
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