Im Schatten von Notre Dame
Muschel war lange Zeit die gesamte Coquille. Immer größer wurde ihr Netz, und die Bruderschaft gliederte sich in eine ganze Anzahl von Untergruppen: Beutelschneider und Einbrecher, Falschspieler und Geldfälscher, Räuber und Mörder, um nur die wichtigsten zu nennen. Anno 1455 kam man der Bande in Dijon, wo sie einen ihrer Hauptstützpunkte hatte, allmählich auf die Spur. In den folgenden Jahren wurden die Coquillards immer mehr in die Enge getrieben, bis sie ihren Zusammen-halt verloren und sich schließlich auflösten. Ihren König allerdings hat man nie gefaßt.«
»Ihren König? Wer war das?«
»Niemand weiß es. Ihn zu verraten wäre jedem schlecht bekommen.
Wisst Ihr, was die Coquillards mit Verrätern anstellten? Sie schnitten ihnen die Gurgel durch und steckten den Toten als Warnung für alle anderen Muschelbrüder eine Muschelschale in den Mund.«
Sofort standen mir Odon und Schwester Victoire vor Augen.
»Ich sehe Euch an, daß Ihr dasselbe denkt wie ich, Monsieur Sauveur. Der Mörder, hinter dem ich her bin, geht ähnlich vor wie damals die Coquillards. Nur daß die Stabzehn die Muschel verdrängt hat.«
»Glaubt Ihr an einen Zufall, Leutnant Falcone?«
»Ich glaube gar nichts, sonst wäre ich Priester geworden. Meine Aufgabe ist es, nach Zusammenhängen zu suchen, nach Motiven und –
vor allen Dingen – nach Tätern.«
Die Rothaarige brachte ein großes Tablett an unseren Tisch, darauf zwei Zinnbecher und ein irdener Weinkrug, Käse, Braten und dunkles Brot. Falcone hielt die Magd am Arm fest und fragte, ob Margot im Hause sei.
»Ich weiß nicht«, antwortete der Rotschopf ausweichend.
»Also ja«, schmunzelte der Leutnant. »Sag ihr, Falcone möchte sie sprechen.« Als die Magd wieder im Gemenge verschwunden war, sagte Falcone: »Margot hat die Zeit der Coquillards miterlebt. Sie kann Euch vielleicht etwas über ihren König erzählen.«
»Ihr sagtet doch, man weiß nichts über ihn.«
»Aber es gibt eine Menge Gerüchte. Manche behaupten, Villon sei der König.«
»François Villon, der Dichter?«
»Derselbe. Villon, Gelehrter und Gossendichter, Magister und Messerheld. Er hat eine Weile in diesem Haus gelebt, als die Dicke Margot noch eine junge süße Made und er ihr Lude war.«
»Villon ein Kuppler?«
»Sagt das nicht so abfällig, Monsieur Sauveur!« Lachend goß Falcone den dunklen Wein in die Becher. »Ihr könntet damit so manchen Herrn hier im Raum beleidigen. Außerdem hat man Villon weitaus Schlimmeres vorgeworfen. Aber stärken wir uns erst einmal. Margot wird schon einiges über den famosen François zu berichten wissen.«
Er holte ein scharfes Messer unter seiner Jacke hervor, um sich Brot, Käse und Braten abzuschneiden. Auch mein Hunger hatte über den Schreck gesiegt, der mich angesichts des toten Mesners ergriffen hatte.
Ich zog den Dolch und führte ihn zu dem knusprigen Braten. So flink und unerwartet, wie er zuvor die Magd festgehalten hatte, packte Falcone nun meinen Unterarm. Während meine derart gelähmte Dolch-hand über dem Tablett schwebte, blickte ich den Leutnant überrascht an. Seine Augen waren forschend auf meinen Dolch gerichtet.
»Die Waffe ist noch recht neu«, stellte er fest. »Und doch weist sie seltsame Abnutzungserscheinungen auf. Die Klinge ist arg verschrammt.«
Seine andere Hand fuhr zu meinem Dolch, und prüfend glitt sein Daumen über die Klinge. »Stumpf und schmutzig zudem.« Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Fühlt sich an wie alter Mörtel.«
Sollte ich ihm verraten, daß ich meine Waffe gegen Mauern hatte schrammen lassen, um aus mir einen Trupp Scharwächter zu machen? Wohl kaum, denn dann hätte ich auch von Gilles Godin sprechen müssen. Also setzte ich ein möglichst unschuldiges Lächeln auf und sagte: »Daran mögt Ihr sehen, daß ich mehr ein Mann der Feder bin als einer der blanken Klinge. Ich habe kürzlich mit dem Dolch die Mauerfugen meiner Zelle gereinigt und nicht bedacht, wie schädlich das für das Werkzeug ist.«
»Säubert den Stahl lieber, bevor Ihr an Fleisch und Käse geht. Mit dem stumpfen Dolch werdet Ihr ordentlich an dem Braten herumsä-
beln müssen.«
Es klang wohlmeinend, aber an Falcones Blick erkannte ich, daß mein Dolch ihn über Gebühr interessierte. Mein Dolch und ich. Und jetzt begriff ich, weshalb er mich eingeladen und den Braten bestellt hatte. Ich hielt ihm den Dolch unter die Nase. »Seht Euch die Klinge nur aus der Nähe an, Herr Leutnant. Ihr werdet keine Blutspuren
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