Im Schatten von Notre Dame
rannte ich los. Als ich ankam, zerblies der heftige Sturm die Staubwolke des Aufschlags. Unter dem Felsen und den Trümmern des Portals begraben lag mit zer-schmettertem Leib und gebrochenem Blick Odon. Von dem Mädchen fehlte jede Spur.
Ich erwachte früh und war dankbar dafür. Odons Tod verfolgte mich bis in meine Träume, verschmolz mit den immer wiederkehrenden Bildern der Bergfestung. So eindringlich, daß der Schlaf mir kaum Erholung brachte. Ich fühlte mich matt und zerschunden, als hätte ich wirklich auf jenem Berg gegen den Sturmwind angekämpft. Mein Kopf schmerzte, und die zahlreichen Fragen, die mich bedrängten, trugen nicht zu meiner Erleichterung bei.
Was hatten Odon und das Mädchen in der Burg zu suchen? Was ich selbst? Wer schleuderte die Steine? Und das Mädchen, was suchte sie?
Wer war sie?
Im Traum hatte ich sie gekannt, ohne jedoch ihren Namen zu wissen. Ich schloß die Augen und versuchte, mir das junge, hübsche Gesicht in Erinnerung zu rufen. Unwillkürlich dachte ich an die Kleine, die am vergangenen Abend zu Villons Lied getanzt hatte. Hatte sie mich so beeindruckt, daß ich sie mit in meine Traumwelt nahm?
Geräusche vor meiner Zellentür rissen mich aus dem Nachsinnen.
Ich sprang vom Bett und ging zum Fenster neben der Tür. Beinahe wäre ich hinausgelaufen und hätte den Mann, der da ein rundes Tablett auf die kleine Bank stellte, umarmt.
Odon!
Er lebte!
Ich ließ die Tür geschlossen. Enttäuscht erkannte ich, daß meine überreizten Sinne mir einen Streich gespielt hatten: Es war Gontier, und ich hatte keine Veranlassung, das Gespräch mit ihm zu suchen. Wozu sich Anklagen anhören – fal s er überhaupt mit mir sprach? Zu deutlich klang mir seine Behauptung, ich sei Odons Mörder, in den Ohren.
Als ich über dem Frühmahl saß, ahnte ich, daß Gontier und wohl auch viele der anderen Mesner mich weiterhin für Odons Mörder hielten. Das Brot war alt und steinhart. Dem widerlichen Beigeschmack der Mehlsuppe kam ich leider erst nach einigen Löffeln auf die Spur: Es war die morgendliche Wasserspende eines Mesners, vielleicht auch des Kochs selbst.
Die Arbeit an Pierre Gringoires zweitem Kapitel, Über die Theorien, welche die Gelehrten in der neueren Zeit über Zustand und Bestimmung der Kometen vortrugen, wollte mir nur schwer von der Hand gehen.
Kaum begriff ich, was Gringoire aufgezeichnet hatte. Mehrmals ver-schrieb ich mich und mußte die Fehler mit dem eisernen Schaber weg-kratzen. Schuld daran waren nicht nur die wirren Theorien, in denen die Kometen ›geschwänzte Sterne‹, ›geschweifte Himmelsboten‹ und
›blutige Zuchtruten Gottes‹ genannt wurden. Meine Gedanken kreisten um andere Dinge.
Immer wieder tauchte Odon vor mir auf und starrte mich von den weißen Seiten an; aus meiner Feder wurde ein Messer, aus der Tinte vergossenes Blut. Aber ich war nicht sein Mörder!
Als Odon starb, hatte ich Gil es Godin und den bärtigen Bettler verfolgt. Der Gedanke daran war nicht geeignet, meinen fiebrigen Verstand zu besänftigen, er warf nur weitere Fragen auf. Wohin waren die beiden gegangen? Wieso belauerte Colin den Notar? Wer war die Frau, deren Schreie ich vernommen hatte? Welche Bewandtnis hatte es mit dem falschen Bart? Vermutlich hatte Colin ihn benutzt. Weshalb verbarg er sein Gesicht? Und wo, bei al en Heiligen, war der Bart abgeblieben?
Meine Grübeleien wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Dom Claude Frollo trat ein und erkundigte sich nach meinem Befinden. »Odons grausamer Tod bedrückt uns alle, besonders aber wohl Euch, da Ihr zu Unrecht des Mordes verdächtigt wurdet, Monsieur Sauveur.«
»Einige scheinen das nicht für ein Unrecht zu halten«, erwiderte ich und erzählte ihm von der Mehlsuppe.
»Das wird nicht wieder vorkommen. Ich werde ein ernstes Wort mit Gontier reden.«
»Da wir gerade bei dem Mesner sind, Monseigneur, weshalb habt Ihr ihm Odons Aufgabe übertragen?«
»Ihr seid hier oben recht einsam, fürchte ich. Gontier ist ein junger, aufgeweckter Bursche, um einiges heller im Kopf, als Odon es war.
Ich dachte, der Umgang mit Gontier sei für Euch abwechslungsreicher.
Wenn Gontier Euch nicht gefällt, werde ich ihn durch einen anderen Mesner ersetzen.«
»Nein, das ist nicht nötig«, sagte ich. »Nach dem gestrigen Vorfall dürfte mir keiner von ihnen wohlgesinnt sein.«
Nach einem kurzen Blick auf den Fortgang meiner Arbeit verließ Claude Frollo mich und begab sich zu seiner abgelegenen Zelle. Mit ihm
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