Im Schatten von Notre Dame
Seine-Insel, sicher, daß er Notre-Dame zustrebte. Die Versammlung mußte abgesagt oder verschoben worden sein. Aber wieder täuschte ich mich.
Frollo wandte sich nach rechts, tauchte in die Gassen um das Hôtel-Dieu ein und hielt auf das buschbestandene Flussufer zu.
Und dann war er einfach verschwunden.
Wie ein Gespenst.
Oder ein Geistermönch.
Kapitel 10
Der Bund der Neun
Ratlos stand ich oberhalb der Uferböschung und starrte auf den linken Arm der Seine hinab. Die sinkende Sonne verlieh dem Fluss einen bronzenen Glanz, als rauschten da unermessliche Mengen flüssigen Metal s vorüber, von einem Alchemisten, auf der Suche nach der vol kommenen Transmutation von Wasser zu Gold, in ein beachtliches Zwischenstadium verwandelt. Jehan Frol o hatte gesagt, auch sein Bruder sei auf der Suche nach dem Geheimnis der Verwandlung, und der klumpfüßige Garkoch hatte es bestätigt. Hatte der Archidiakon sich, vom Zauber des Flusses berührt, in die Fluten gestürzt, um selbst Teil jenes Prozesses zu werden, der die Vol kommenheit anstrebt?
Ich blickte zum anderen Ufer hinüber, zu der hügeligen Universitätsstadt mit ihrem Gassengewirr, aus dem, wie nach einem Plan verteilt, in regelmäßigen Abständen rund vierzig Kollegien hervorsta-chen. Dort tummelten sich die Magister und Scholaren, die Mönche der Bettelorden, aber auch jede Menge leichtlebiges und lichtscheues Pack, wobei die Grenze zwischen einem ernsthaften Studenten und einem Nichtsnutz nicht leicht zu ziehen war, wie Jehan Frollo bewies.
Voller Leben wie die Straßen war auch der stark befahrene Fluss, den die Wächter erst beim endgültigen Versinken der Sonne an beiden Enden der Stadt mit eisernen Ketten sicherten. Der schmale Uferstreifen unter mir aber zog keinen Menschen an; zu steil fiel er ab, zu wenig einladend wirkten die spitzen Felsen und das dichte, struppige Strauchwerk. Ein ähnlich unwirtlicher Ort wie das verfallene Haus des Nicolas Flamel.
Langsam, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, stieg ich zum Fluss hinab. Immer wieder hielt ich mich an Zweigen fest, um in dem unwegsamen Gelände nicht den Halt zu verlieren. Mannshoch wucherten Haselsträucher, Gänsefuß und Schilf. Ein prächtiger Ort, um sich vor einem Verfolger zu verstecken. War ich dem Archidiakon aller Vorsicht zum Trotz aufgefallen? Plötzlich gab der Boden unter meinen Füßen nach, und der Sturz schnitt jeden Gedanken ab.
Mit der Schulter schlug ich schmerzhaft auf hartem Stein auf, und doch war ich dafür fast dankbar, hatte ich mich doch schon den Ab-hang hinunter in die Seine fallen sehen. Statt dessen lag ich in einem finsteren Erdloch, das Strauchwerk und Dämmerlicht vor meinen Augen verborgen hatten. Womöglich war es dem Archidiakon ähnlich ergangen? Dann aber bemerkte ich den Schacht, der tief ins Erdreich hin-einführte, hörte ich das leise Raunen entfernter Stimmen, und dachte mir, daß der Archidiakon vielleicht absichtlich in das Loch gestiegen war. Die Zusammenkunft der Neun!
Meine Neugier war stärker als die Furcht, die mein Herz rasen machte. Ich folgte den Stimmen und schritt tiefer in die Finsternis hinein.
Der Tunnel war kalt und feucht, uneben am Boden wie an der Dek-ke. Mehrmals stürzte ich oder stieß mir den Kopf an hartem Gestein.
Die Breite des Felsgangs war unterschiedlich. Höchstens zwei Männer mochten nebeneinander passen, dann wieder war es für einen schon eng. Plötzlich sich auftuende Löcher in der Wand verwirrten mich anfangs, bis ich das Geheimnis erriet: Es waren Abzweigungen. Wohin sie führten, wußte ich nicht, kannte ich doch nicht einmal meinen eigenen Weg. Nur soviel schien gewiß: Da der unterirdische Gang vom Fluss wegführte, mußte ich mich irgendwo unter Notre-Dame befinden, vielleicht auch unter dem Hôtel-Dieu.
Erst als ich einen schwachen Lichtschein ausmachte, bemerkte ich, daß die Form des Schachts sich gewandelt hatte; er verlief jetzt regelmäßiger und bestand aus behauenem Stein. Ich hielt an, lauschte und vernahm mehrere Stimmen. Geduckt und leise schlich ich nä-
her. Das Licht wurde stärker. Als ich um eine Ecke spähte, erstarrte ich und hielt unwillkürlich den Atem an. Gleichzeitig preßte ich, um nicht entdeckt zu werden, mein Gesicht an die feuchte, grabes-kalte Wand.
Neun Männer standen in einem runden Saal und bildeten einen Kreis um einen Altar, der aus einem groben Steinblock bestand und auf dem mehrere Kerzen brannten. Ihr Licht hatte mich geleitet. Wie tief unter der Erde ich
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