Im Schatten von Notre Dame
den tierhaften Fratzen mir Schauer über den Rücken getrieben hätten, wäre ich nicht an die Vielzahl seltsamer Skulpturen in Notre-Dame gewöhnt gewesen. Die Inschrift auf einer großen Steinplatte vergrö-
ßerte das Rätsel noch, die Namen der hier Begrabenen waren wohl kaum die von Frollos Eltern: Nicolas Flamel und Claude Pernelle.
Der Name Flamel rief mir das Gespräch zwischen Frollo und Godin in Erinnerung. Hatte der Notar nicht von Untersuchungen gesprochen, die der Kirchenmann betreffend Flamel anstellte? Mir blieb keine Zeit zu längerer Betrachtung, wollte ich den Archidiakon nicht aus den Augen verlieren.
Er tauchte in den Trubel auf den Wiesen ein und blieb bei einer dichtgedrängten Menschentraube stehen, die sich einem mir unbekannten Vergnügen hingab. Ich hörte die Menge johlen und jauchzen und Zahlen rufen. Daß es sich um Wetten handelte, begriff ich erst, als ich auf die unteren Äste einer Kastanie kletterte, um besser sehen zu können.
Die Menge bildete einen Kreis von etwa vierzig Fuß Durchmesser, in dem vier ärmlich gekleidete Männer wie Veitstänzer umherspran-gen und mit Prügeln aufeinander einschlugen, aufgehetzt von den Rufen der Schaulustigen. Die Bewegungen der vier wirkten seltsam ungelenk, als besäßen sie keine rechte Gewalt über ihre Körper. Oft streifte der Prügel einen Gegner nur, obgleich ein Treffer auf Kopf oder Leib gut möglich gewesen wäre. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, daß sie es gar nicht aufeinander abgesehen hatten. Zwischen ihren Beinen schoß ein schwarzes Etwas herum, ein Ferkel, das sie mit den Stöcken zu erwischen trachteten. Doch statt des quiekenden Tieres trafen sie nur die Erde oder einen der Ihren. Als seien sie im Vollrausch.
»Hei, das ist ja ein deftiges Tänzchen. Los denn, ihr nichtsnutzigen Burschen, lasst die Knüppel ordentlich niederkrachen!« Die Stimme aus dem Astwerk unter mir erschreckte mich, daß ich fast den Halt verloren hätte. Eine kleine Gestalt kletterte flink zu mir herauf und ließ sich auf dem Ast zur Linken nieder. Das Spitzbubengesicht unter dem blonden Haarbüschel war mir bekannt, aber keineswegs willkommen. »Schaut nicht so böse, Monsieur Armand! Man könnte meinen, Ihr wolltet mich verschlingen.«
»Damit Ihr mich wieder des Mordes bezichtigt, Jehan Frollo? Vielen Dank, auf das Festmahl verzichte ich!« Mit einer verächtlichen Geste winkte ich ab.
»Irren kann jeder Mensch, im Irrtum verharren nur der Tor, das wußte schon Ovid.«
»Wenn er’s wußte, dann hatte er’s von Cicero.«
»Oh!« Frollo grinste schelmisch. »Da seht Ihr mal, wohin das viele Studieren führt. Man kann sich nicht mal seine Quellen merken, besonders wenn der eigene Bruder so knausrig ist, einem das Geld für die Bücher zu verweigern.«
»Für die Bücher oder für den Wein?«
»Man braucht das eine, um das andere zu ertragen.« Der Scholar stutzte und brach in unvermitteltes Gelächter aus. »Bei der erzdiakoni-schen Sturköpfigkeit meines Bruders, aus mir wird noch mal ein rechter Philosoph.«
»Bei soviel Klugheit könnt Ihr mir sicher sagen, welch seltsames Spiel da unten aufgeführt wird. Ein halber Veitstanz, wie mir scheint.«
Der junge Frollo blickte mich erstaunt an. »Habt Ihr noch nie vom Blindentanz gehört?«
Ich schüttelte den Kopf und murmelte: »Aber der Name ist treffend.
Die vier Dummköpfe führen sich wirklich auf wie Blinde.«
»Sie sind blind.«
Jetzt war es an mir, ein verdutztes Gesicht zu machen. »Ich verstehe Euch nicht, Monsieur Jehan. Warum setzt man ausgerechnet Blinde darauf an, das Ferkel zu erschlagen?«
»Ihr versteht’s wirklich nicht«, kicherte Frol o. »Das ist doch gerade der Spaß. Man holt sich ein paar bettelarme Blinde, deren Mägen so leer sind wie meine Geldkatze, und verspricht das Ferkel dem, der es erlegt.«
»Aber in ihrer Blindheit treffen sie nur sich selbst!«
»Ja, genau, jetzt habt Ihr den Scherz begriffen.«
Ehe ich noch erklären konnte, daß ich das boshafte Schauspiel nicht im mindesten lustig fand, rutschte er wie ein aufgescheuchtes Eich-hörnchen zu Boden. »Bei der Seele meines Vaters, da unten steht der finstere Claude! Wär doch gelacht, wenn diesmal kein Groschen für mich abfällt.«
Jehan war flink, aber sein Bruder war noch schneller. Mit zornigen Rufen und drohenden Gesten scheuchte der Archidiakon die Menge auseinander. Das Ferkel fand ein rettendes Schlupfloch. Claude Frollo sprach zu den Blinden und nahm sie mit sich, verfolgt von den
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