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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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wütenden Schreien der enttäuschten Zuschauer. Der Scholar folgte dem Bruder, und ich eilte Jehan hinterdrein.
    Ich verlor den Blondschopf kurzzeitig aus den Augen, entdeckte ihn dann aber vor einem großen Haus ganz in der Nähe des Friedhofs. Ungeduldig lief er auf und ab und warf dem Gebäude immer wieder for-dernde Blicke zu.
    »Ist Euer Bruder Euch entwischt?«
    Der Scholar nickte. »Er liefert die Blinden ab, auf daß Quinze-Vingts voll werde.«
    »Quinze-Was?«
    »Quinze-Vingts. Fünfzehn mal zwanzig ergibt dreihundert. So viele Blinde leben in dem Heim, ernährt vom König und versorgt von Maître Denis Le Mercier. Ihr müsstet den Vorsteher des Blindenhauses beim Narrenfest gesehen haben. Er war unter den Gästen im Gro-
    ßen Saal des Justizpalastes.«
    Ich erinnerte mich dunkel an einen großen, wuchtigen Mann dieses Namens und fragte: »Wart Ihr auch auf dem Friedhof, um Euren Eltern einen Besuch abzustatten?«

    »Seit wann vertreibt man seine Zeit mit den Toten? Bei den unschuldigen Kindlein vergnügt man sich, nicht Trauer ist dort angesagt.«
    »Euer Bruder dagegen schien sich sehr für eine Gruft zu interessieren allerdings mit den Namen Nicolas Flamel und Claude Pernelle.«
    »Die Grabstätte eines Hermetikers und seiner Alten, die neben dem Pestgrab unserer Eltern liegt. Wenn Dom Claude seinen verstiegenen Ideen nachgeht, ist ihm keine anrüchige Wissenschaft zu fern. Flamel gelang angeblich die Herstellung von Gold. Transmutation, pah!
    Wenn man aus Scheiße Gold machen könnte, hätte ich’s längst getan.«
    Der Scholar winkte verstimmt ab. »Leider hab ich edles Metall weder im Transmutationskessel noch im Geldbeutel. Ihr könnt mir nicht zu-fällig aushelfen? Bis mein Bruder da rauskommt, bin ich verdurstet.«
    Zu seinem Erstaunen gab ich ihm einen Sol. Ich wollte ihn loswerden, um den Archidiakon ungestört beobachten zu können. Kaum war Jehan Frollo unter übertriebenen Dankesbekundungen hinter der nächsten Ecke verschwunden, da wurde das Hauptportal des Blindenhauses geöffnet. Aus dem Schatten einer bemoosten Mauer sah ich, wie Dom Claude sich von einem Mann im silberbestickten Wams verabschiedete; ich erkannte Maître Le Mercier wieder.
    Zielstrebig eilte Claude Frollo durch das Gassengewirr, und ich war mit klopfendem Herzen sein Schatten. Doch wenn ich gehofft hatte, er würde mich zu der geheimen Zusammenkunft führen, wurde ich bitter enttäuscht. Das kleine Haus an der Ecke Rue des Ecrivains und Rue Marivaulx, in das er bei hereinbrechender Abenddämmerung trat, war vollkommen leer. Eine verlassene Ruine, in der nur Ratten hausten.
    Von der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtete ich, wie Frollo durch den Schutt geisterte und sich immer wieder bückte, als suche er etwas. Ich hörte ihn aus tiefster Seele seufzen wie zuvor an der Gruft.
    In einer nahe gelegenen Garküche, von der aus ich das verfallene Haus im Auge behalten konnte, kaufte ich einen Spieß mit Kalbfleisch und Champignons. Beiläufig fragte ich den klumpfüßigen Koch nach der Ruine. »Warum läßt man das Haus so herunterkommen?«
    »Weil’s zu brüchig ist, um drin zu wohnen.«
    »Dann sollte man es abreißen und ein neues Gebäude errichten.«

    »Das wagt keiner. Sie fürchten Flamels Geist, wie’s heißt. Aber wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt, ich glaube, gewisse hoch stehende Persönlichkeiten wollen der alten Hexenküche ihre Geheimnisse entrei-
    ßen. Sie wühlen im Dreck herum und glauben, dort liege der Stein der Weisen verborgen. Selbst unsern allerheiligsten König Ludwig will man schon im Flamel-Haus gesehen haben.«
    »Muß ja ein eigenartiger Mann gewesen sein, dieser Flamel.«
    Die Schweinsäuglein des Kochs musterten mich neugierig. »Ihr seid wohl nicht aus Paris, daß Ihr noch nichts von Nicolas Flamel gehört habt?«
    »Erraten, Monsieur.«
    »Er soll auf seinen Wanderungen in ferne Länder hinter die Kunst der Transmutation gekommen sein. Es heißt, er habe das Geheimnis des Goldmachern und das des ewigen Lebens gekannt. Aber wenn das mit dem ewigen Leben stimmt, frag ich mich: Weshalb ist er dann vor über sechzig Jahren in dem Haus da krepiert, wie vor ihm seine Alte, eine gewisse Claude Pernelle, eh?«
    Ich hatte weder die richtige Eingebung noch die Zeit, die Frage zu beantworten. Frollo trat auf die Straße, klopfte Schmutz von seinen Kleidern und schlug in südöstlicher Richtung den Weg zum Fluss ein. Enttäuscht folgte ich ihm über die Wechslerbrücke zurück auf die

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