Im Schatten von Notre Dame
mich befand, vermochte ich nicht festzustellen.
Eine natürliche Lichtquelle gab es nicht.
Ich erkannte einige der Männer, zuvörderst Claude Frollo, dann Gilles Godin und den königlichen Ankläger Jacques Charmolue, den ich an meinem ersten Abend in Notre-Dame in Frollos und Godins Begleitung gesehen hatte und zuvor am Dreikönigstag im Großen Saal des Justizpalastes. Auch der Vorsteher des Blindenhauses gehörte zu dem seltsamen Kreis sowie zwei Herren, deren ich mich erst besinnen mußte. Auch sie waren mir am Tag der Heiligen Drei Könige im Gro-
ßen Saal unter die Augen gekommen: Rittmeister Jehan de Harlay, Befehlshaber der berittenen Nachtwache, und der Universitätsbuchhändler Andry Musnier.
Seltsam wie der Ort der Zusammenkunft war auch die Aufmachung der Männer. Jeder trug einen weißen Übermantel, der am Hals von einer Spange zusammengehalten wurde und auf dem Rücken mit einem blutroten Tatzenkreuz verziert war. Die Tracht weckte eine Erinnerung in mir, ich kannte sie von Abbildungen in alten Büchern. Aber erst, als ich das hinter dem Altar aufgepflanzte Banner sah, das sich in ein oberes schwarzes und ein unteres weißes Feld teilte, kam mir die Erleuchtung.
Doch es war unmöglich, aus mehreren Gründen. Diese Männer standen im Dienst des Bischofs von Paris, des Königs oder des Rektors der Sorbonne. Wie konnten sie gleichzeitig einem Orden angehören? Zudem einem, der seit hundertsiebzig Jahren verboten war, aufgelöst vom Papst, zerschlagen vom König? Nur war nicht zu leugnen, was meine Augen sahen: die weiße Kutte mit dem Kreuz in der Farbe vom Blute Christi, das Banner mit den Farben des Reinen und des Unreinen, des Guten und des Bösen. Die Armen Ritter Christi vom Tempel Salomo-nis zu Jerusalem – Templer!
War ich heimlicher Zeuge, wie die hohen Herren in ihrer Verkleidung ein groteskes Schauspiel aus der Feder des vielseitigen Pierre Gringoire aufführten? Aber daß ein Archidiakon, ein hoher Offizier und führende Männer vom Châtelet sich zu so etwas hergaben, schien unerhört.
Andererseits – die ganze Szene vor mir war es nicht minder.
Das absonderliche Bild hatte mich derart gefangen, daß ich auf die Worte, die reihum gesprochen wurden – offenbar ein Ritual –, bislang nicht geachtet hatte. Nun fassten die Neun einander bei den Händen und setzten zu einem Singsang an, bei dem Frollo den Vorsänger machte. Der Archidiakon stand direkt vor dem schwarz-weißen Banner und schien innerhalb der Gruppe die Stellung eines Anführers in-nezuhaben. Jeder seiner Sätze wurde von den acht anderen Templern, wie ich sie wohl nennen mußte, wiederholt.
»Neun Stufen führen zur himmlischen Stadt. Neun Ordnungen gliedern der Engel Schar. Aus neun Sphären besteht die vergängliche Welt.
Zur neunten Stunde starb Jesus Christus, unser Prophet. Neun Tapfere zogen gen Jerusalem, zu hüten des Tempels heiligen Schatz. In der Neun ist dreimal enthalten die vollkommene Drei. Wir sind neun und fast vollkommen. Zur Gänze vollkommen sind wir mit der göttlichen Macht. So erscheine uns, Vater der Erkenntnis, um aus dem Bund der Neun eine vollkommene Zehnerschaft zu formen!«
Der raunende Singsang warf in dem unterirdischen Tempel einen dumpfen Hal , als antworte den Weißkutten ein jenseitiges Wesen aus den tiefsten Tiefen. Ich erinnerte mich der alten Berichte über die Schwarzen Messen der Templer, denen ich als Kind mit glühenden Wangen ge-lauscht hatte, wenn die frommen Brüder von Sablé in Erzähl aune waren. Damals erfuhr ich von den schamlosen Satansriten der Tempelritter, mit denen sie, so der Vorwurf, dem Dämon Baphomet huldigten.
Kein Wunder, daß ich zusammenfuhr, als wahrhaftig ein Geschöpf mit dem Kopf eines Ungeheuers aus dem Schatten in den sich öffnenden Kreis der Neun trat. Es hatte ein Gesicht wie flüssiges Feuer, und grüne Flammenstrahlen schossen aus seinen Augen. Ich weiß nicht, ob ich geblendet war oder zu Tode erschrocken, aber ich zuckte zurück und schloß die Augen, als könne ich dem Untier dadurch entfliehen.
Ich war ein Narr, benahm mich wie ein kleines Kind. Das erkannte ich, als ich die Augen wieder öffnete und auf einen schmalen Sims stieg, um besser sehen zu können.
Kein Untier war in die Mitte der Neun getreten, sondern ein Mensch wie du und ich. Auch er trug den weißen Mantel mit dem roten Temp-lerkreuz, und in der Rechten hielt er einen Abakusstab. Das Antlitz lag hinter einer Maske verborgen, die ein Gesicht darstellte, wenn auch eins,
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