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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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weite Teile des Landes, klebt an vielen verirrten Seelen, und geben wir nicht acht, so verdirbt er alle und alles auf ewig. Darum, Brüder und Schwestern, lasst uns gemeinsam den Herrn anrufen!«
    Wieder machte der Geistermönch den Vorbeter, und diesmal antwortete ihm seine ganze Gemeinde, die sich von den Bänken erhob.
    Ich aber stand nur starr und stumm da und malte mir aus, was geschä-
    he, wenn jetzt die Scharwächter den unterirdischen Tempel stürmten.
    Würden sie mir glauben, daß ich nicht zu den Ketzern gehörte? Wohl kaum. Für mich wuchsen die bescheidenen Kerzenflammen zu lodern-den Scheiterhaufen, in deren Mitte ich mich selbst sah, lebendigen Leibes an einen hölzernen Pfahl gebunden.
    Die beängstigende Vorstellung nahm mich derart gefangen, daß ich vom Rest des Gottesdienstes kaum etwas mitbekam. Oder sollte ich lieber vom Götzendienst reden? Als die Versammlung sich auflöste, verschwand der Geistermönch im Dunkel, das den Saal im rückwärtigen Teil jenseits des Altars beherrschte. Ich wurde von den drei Italienern hinausbegleitet und merkte gar nicht, daß ich meiner Erregung über das Erlebte laut Luft machte.
    »Was murmelt Ihr da von Gotteslästerei und Ketzerei!« fuhr Leonardo mich an. »Wir dienen und ehren Gottvater nicht schlechter als die, die sich Christen nennen, aber nicht auf das Wort Christi hören, sondern auf das liederlicher Päpste. Um genau zu sein, wir dienen dem Herrn besser. In Wahrheit sind wir die Erben Christi, die Befolger und Verkünder der reinen Lehre.«
    »Mit Eurer reinen Lehre kann es nicht weit her sein, wenn Ihr Euren Gläubigen das Vaterunser als Zeichen ihrer Weihe schenkt. Ein Gebet, das jeder Knabe im Schlaf beherrscht.«
    »Vielleicht jeder Chorknabe und jeder Klosterzögling, Signore Armand, doch wohl kaum die Gassenjungen, die ihr täglich Brot aus den Abfällen der guten Bürger und der wohlgemästeten Pfaffen klauben, die da predigen: Liebe deinen Nächsten!«
    »Ach«, erwiderte ich spöttisch, »Ihr zitiert Matthäus? Für einen Ketzer kennt Ihr Euch in der Heiligen Schrift wirklich gut aus.«

    »Grazie«, sagte Leonardo grinsend, fuhr aber in ernstem Ton fort:
    »Wenn Ihr bei Matthäus ein wenig weiterblättert, werdet Ihr folgendes Gebot finden: ›Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht munter plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.‹ Und welches Gebet, Signore, schreibt Matthäus den Gläubigen vor?«
    »Das Vaterunser«, gab ich zerknirscht zu.
    »Das Vaterunser ist unser Gebet, wie es nach Matthäus das Gebet der wahren Gläubigen ist. Wer aber Gebete über Gebete plappert, ohne ihren Sinn zu erfassen, der ist ein Heide. Wir kennen das Vaterunser, beten es mehrmals täglich, aber die Übergabe des Buches bedeutet mehr. Sie erinnert uns daran, daß wir mit dem Gebet eine Gnade und eine Hoffnung empfangen haben.«
    Verwirrt ließ ich mich durch die dunklen Gänge in einen Raum führen, der von einem kleinen Kamin beheizt wurde. Das Zimmer – oder sollte ich es eine Gruft nennen? – war kleiner als dasjenige, in dem ich mich umgezogen hatte. Offenbar diente es seinem Bewohner als Schlaf- und Studierstube. Eine Wand wurde von einem gut gefüllten Bücherregal bedeckt, an der gegenüberliegenden stand ein einfach zusammengezimmerter Bettkasten. Auf einem Tisch lagen aufgeschlagene Bücher neben einem Schachspiel mit grob geschnitzten Holzfi-guren.
    »Wartet hier«, wies Leonardo mich an. »Der, den Ihr sucht, wird gleich zu Euch kommen.«
    Damit ließen mich die Italiener allein. Mein Blick schweifte über die Bücher, die im unruhig zuckenden Kaminfeuer auf den Brettern tanzten. Neben mehreren Ausgaben der Heiligen Schrift fand ich die Werke der antiken Philosophen und der Alchemisten. Da fehlte nur noch Gringoires Kometenbuch.
    Schritte lenkten mich ab. Leise, aber zielstrebig näherten sie sich der Zelle, klangen hohl, unirdisch. Ich versuchte mir einzureden, daß dicke Mauern und Erdschichten die Geräusche dämpften. Aber war es nicht doch ein Tier, in dessen Bauch ich mich befand? Das mich verschluckt hatte und nun verdauen wollte? Vielleicht waren es keine Schritte, was ich da hörte, sondern das Pochen des riesigen Herzens, das schneller schlug in freudiger Erregung vor der nahen Mahlzeit?
    Kam die Bestie, um mir das Leben zu rauben, das Blut?
    Den Verstand?

Kapitel 3
    Luzifers Krone
    Es war der Geistermönch, dessen Antlitz noch immer von der Kapuze verhüllt wurde. Er ging gebeugt, ein

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