Im Schatten von Notre Dame
von uns wird während des Vaterunsers bei unserem Gast bleiben müssen«, sagte Leonardo zu Colin.
Der Bettler schüttelte den Kopf.
»Monsieur Armand soll an der Versammlung teilnehmen.«
Der Italiener zog seine buschigen Brauen zusammen. »Wer sagt das?«
»Er.«
Der Nachdruck, mit dem Colin antwortete, genügte, um Leonardo zu überzeugen. Wieder nahmen mich die Italiener in ihre Mitte, als trauten sie mir nicht recht. Colin begleitete uns nicht, blieb allein in dem großen Raum zurück. Die unterirdischen Gänge, die mir vorhin ziemlich verlassen vorgekommen waren – sah man einmal von Ratten, Käfern und Spinnen ab –, wimmelten jetzt von Menschen, als habe der Ausrufer tatsächlich die Toten aus ihren Gräbern gelockt. Aus finsteren Winkeln und über steile Treppen strömten Männer und Frauen in einen großen Saal, der auch unser Ziel war.
Hier gab es keine Rosetten und keine buntbemalten Fenster, denn der Saal lag tief unter der Erde. Es gab keinen Wandschmuck, keine Skulpturen, nicht einmal Kreuze. Lediglich schmucklose Kerzen, ohne die es stockdüster gewesen wäre, brannten an den Wänden und auf einem altarartigen Sockel. Vor dem Sockel drängten sich lange Reihen einfacher Bänke, hölzern und reichlich verrottet, auf die sich die Menschen niederließen. Es roch nicht nach Weihrauch und nicht nach Myrrhe, eher nach kalter, feuchter Erde, nach Sumpf und Moder. Und doch spürte ich schon beim Eintreten, daß es sich um einen heiligen Raum handelte, um eine Kirche.
Wir nahmen auf einer der hinteren Bänke Platz und warteten ab, bis sich der Raum gefüllt hatte. Etwa drei- bis vierhundert Menschen be-völkerten ihn, und die Hälfte von ihnen fand keinen Sitzplatz mehr.
Eben noch hatten die Menschen miteinander gesprochen, vielleicht etwas gedämpfter als in den Gassen von Paris, aber doch ungezwungen. Mit einem Schlag verstummten sie, und aller Augen richteten sich nach vorn. Auch meine. Was sie sahen, war das, wonach ich gesucht hatte. Und doch wirkte der Anblick furchteinflößend. Vielleicht, weil die weit vorgezogene Kapuze das Gesicht der Gestalt, die vor dem Steinsockel stand, verhüllte.
Der Geistermönch!
Soweit sie saßen, erhoben sich die Menschen. Alle Anwesenden gingen dreimal tief in die Knie und sagten jedes Mal wie aus einem Mund
»Verzeiht uns, und segnet uns.« Beim dritten Mal blieben sie auf der Knien und fügten hinzu: »Bittet den Vater der Guten Seelen für uns Sünder, daß er uns zu Guten Menschen mache und uns zu einem guten Ende führe.«
»Der Vater der Guten Seelen segne euch«, sagte der Geistermönch dreimal und fuhr beim dritten Mal fort: »Der Herr sei gebeten, daß er euch zu Guten Menschen mache und euch zu einem guten Ende füh-re.«Während dieser Zeremonie lief ein Schauer durch meinen Körper. Die Begrüßungsformel ähnelte zu sehr den Worten, mit denen Dom Frollo und Gilles Godin an jenem Abend, als ich sie heimlich belauschte, auf dem Vorplatz von Notre-Dame einander begegneten.
Und was ich schon mehrfach vermutet hatte, wurde erneut zur jeden anderen Gedanken verdrängenden Frage: Verbarg die Kapuze des Geistermönchs die ernsten, gebieterischen Züge des Archidiakons? War ich aus seiner Kathedrale entflohen, um mich hier, in diesem ominö-
sen unterirdischen Reich, ganz und gar in seine Hände zu begeben?
War ich von Anfang an nur seine Marionette gewesen, ein Roraffe, der tanzte, wenn Frollo auf der Orgel spielte?
Vergeblich bemühte ich mich herauszufinden, ob der Geistermönch mit der Stimme des Archidiakons sprach. Hier unten klangen die Worte dumpf, schwer, feucht – wie die Erde, die uns alle umschloß. Auch mußte ich damit rechnen, daß der Mann unter der Kapuze seine Stimme verstellte.
Der Geistermönch sprach: »Brüder und Schwestern, wir kommen zusammen im dunklen Reich, denn es sind dunkle Zeiten. Unsere Gemeinden sind zerschlagen, unser Glaube wird verfolgt, unsere Namen sind geächtet. Nur hinter vorgehaltener Hand spricht der Bruder zum Bruder, die Schwester zur Schwester. Die Gefahr ist so gegenwärtig, daß einige von uns selbst jetzt ihre Waffen tragen. Wenig Grund also für einen Fremden, sich uns anzuschließen. Und doch sind wir heute zusammengekommen, um eine junge Frau zu unserer Schwester zu erheben. Sie wird nun vor uns treten, um das heilige Gebet entgegenzunehmen, das Jesus Christus seinen Jüngern gab, damit unsere Bitten und Gebete von unserem hochheiligen Vater erhört werden, wie David sagte: Mein Gebet steige wie
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