Im Schatten von Notre Dame
Euch.«
»Dem Pfandleiher haben sie nicht geholfen.«
»Dazu kamen sie leider zu spät.«
»Und wer«, fragte ich langsam, jede Silbe betonend, »ist der Schnitter von Notre-Dame?«
»Das hoffte ich von Euch zu erfahren, Armand.«
»Ich habe keine Ahnung. Allerdings hatte ich Euren Maître Leonardo in Verdacht.«
»Da seid Ihr einem Trugschluss erlegen. Der Schnitter ist gewiß nicht in unseren Reihen zu suchen. Eher hat ihn der Teufel von Notre-Da-me gesandt.«
»Sprecht Ihr von Dom Frollo?«
»Von wem sonst?«
»Und warum nennt Ihr ihn einen Teufel?«
»Wie nennt Ihr einen Mann, der Satan anbetet und dem Bösen dient?«
»Um aufrichtig zu sein, die Messe, der ich eben beiwohnte, machte auf mich auch nicht gerade einen allzu christlichen Eindruck.«
Ich hörte ein schweres Atmen, fast ein Schnaufen, als fühle sich mein Gegenüber getroffen, vielleicht gar beleidigt. Schließlich sagte er mit Inbrunst: »Ihr dürft nicht den Fehler begehen, die Macht, die sich Kirche nennt, mit dem Christentum zu verwechseln. Die wahren Christen sind wir, sind meine Brüder und Schwestern.«
»Das haben schon viele gesagt, die dann auf dem Scheiterhaufen gelandet sind.«
»Wer wahrhaft glaubt, verbrennt lieber seinen sündigen Körper, als seine gute Seele zu leugnen!«
»Und wie nennt ihr wahrhaft Gläubigen euch?«
»Man gab uns viele Namen, Albigenser, Albanenser oder Concorez-zianer, häufig nannte man uns Katharer, und es wurde zum Synonym für Ketzer. Wir aber brauchen keinen besonderen Namen, wir nennen uns einfach die Guten Menschen.«
»Vielleicht sollte man Euch und Euresgleichen besser die Wahnsinnigen nennen«, entfuhr es mir.
»Weshalb?« fragte der Geistermönch ruhig.
»Weil die Katharer ausgerottet sind, durch einen blutigen Kreuzzug vernichtet, vor zweihundertfünfzig Jahren.«
»Ihr sprecht die Wahrheit, Armand, aber nicht die ganze. Was wisst Ihr über unseren Glauben, über unsere Bewegung?«
Im Scriptorium von Sablé hatte ich den Liber Supra Stella kopiert, den Salvo Buree anno 1235 zu Piacenza gegen alle Ketzer verfasst hatte. Dadurch angeregt, hatte ich mich mit den Mönchen über das Ka-tharertum unterhalten und einiges über die Satanssekte erfahren. Sie hatte ihren Ursprung auf dem Balkan, in einer Gruppe, die man Bo-gomilen nannte.
Die Irrlehre faßte in Südfrankreich Fuß, bei der Stadt Albi, woher der Name Albigenser rührte. Ihre Anhänger selbst aber bezeichneten sich als die Reinen, ›Katharoi‹ im Griechischen, daher der Name Katharer.
Ihr Glaube erschien mir so konfus, daß ich ihn nie ganz verstanden hatte. Es hieß, sie hätten Gott die Schöpfung der Welt abgesprochen, oder aber, sie hätten Satan zu einem gleich mächtigen Wesen neben Gott erhoben. Doch waren sie kühn genug, sich als wahre Christen zu bezeichnen, und scheuten selbst den öffentlichen Disput mit den Männern der Kirche nicht. Mit ihren teuflischen Praktiken gewannen die Katharer eine irregeleitete Seele nach der anderen.
Je stärker ihre Macht wurde, desto entschiedener wandten Kirche und König sich gegen sie. Papst Innozenz III. begann ab dem Jahre 1231, mit Hilfe der Dominikaner und Franziskaner, dem Rückgrat der Inquisition, mit aller Härte gegen die uneinsichtigen Ketzer vorzugehen. Ein Kreuzzug wurde geführt, blutig und ungerecht wie jeder Krieg, bis die Hochburg der Gottesleugner, Montségur in Occitanien, anno 1244 nach langer Belagerung gestürmt wurde. Das alles berichtete ich dem Vermummten, nicht ohne Stolz auf mein beträchtliches Wissen.
Unbeeindruckt erwiderte er: »Gewiß, die meisten von uns beugten sich den Häschern, opferten entweder ihren Glauben oder ihr Leben.
Aber einige entkamen, fanden sich an abgelegenen Orten zusammen, bildeten neue Gemeinden, erwählten neue Bischöfe, um den wahren Glauben nicht sterben zu lassen. In vielen Chroniken ist Montségur als das Ende unseres Glaubens angeführt. Aber vier Vollkommene entkamen der Belagerung, und mit sich nahmen sie das größte Geheimnis, das diese Welt jemals sah – den Sonnenstein.«
»Davon habe ich nie gehört«, bekannte ich.
»Sonst wäre es kaum ein Geheimnis, schon gar kein großes. Um es zu verstehen, müßt Ihr Euch eingehend mit dem Glauben der Guten Menschen beschäftigen, Armand. Seid Ihr dazu bereit?«
»Ja, schon«, sagte ich ein wenig zögerlich und fühlte mich wie ein Blinder, der einem unbekannten Pfad folgt, ängstlich darauf bedacht, jeden falschen, möglicherweise verhängnisvollen Schritt zu
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