Im Schatten von Notre Dame
ein Rauchopfer zu dir auf.«
Er streute etwas Pulver auf die größte Altarkerze. Eine Stichflamme schoß empor und verwandelte sich in eine Rauchwolke, die zur unbe-hauenen Felsdecke schwebte.
Ich verfolgte das alles mit einem dicken Kloß in der Kehle. Nun war mir klar, weshalb dieser Gottesdienst unter der Erde abgehalten wurde, im geheimen. Die Worte des Geistermönchs waren deutlich gewesen. Die hier Versammelten waren Ungläubige, Ketzer, von der Kirche verfolgt, von den Gesetzen mit dem Tod bedroht. Sie konnten sich nur heimlich treffen und durften nicht riskieren, daß man sie verriet.
Für mich hieß das: Die Gotteslästerer würden dafür sorgen, daß ich schwieg!
Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, trat vor und ging vor dem Geistermönch in die Knie. Sie trug ein weites schwarzes Gewand, das ihren Leib gänzlich verhüllte. Helles Haar fiel in weichen Wellen auf ihre Schultern. Als sie ihr Gesicht ein wenig zur Seite wandte, versetzte es mir den nächsten Schlag: Ich kannte die Frau. Sie hatte einen Herzschlag lang in meinen Armen gelegen. An jenem Abend, als ich mit Leutnant Falcone bei der Dicken Margot zu Gast war und der Spielmann Leonardo die Ballade vom armen Villon sang. Sie hatte ein buntes Kleid getragen und ausgelassener getanzt, als das Lied es gestattete.»Verzeiht mir, und segnet mich«, sagte sie mit klarer, durchdringender Stimme. »Bittet den Vater der Guten Seelen für mich Sünderin, daß er mich zu einem Guten Menschen mache und mich zu einem guten Ende führe. Übergebt mir das heilige Gebet, damit ich zu meinem Herrn sprechen kann.«
Der Geistermönch beugte sich zu ihr und sprach: »Du willst nach der reinen Lehre leben und ein Guter Mensch sein, Schwester Colette.
Du willst erfahren, wie du das heilige Gebet, das Vaterunser, entgegennimmst. Obwohl es nur kurz ist, enthält es Großes. Daher soll, wer das Vaterunser spricht, es mit guten Werken ehren. Bist du dazu bereit?«
»Das bin ich.«
»Wenn du dieses Gebet entgegennimmst, mußt du alle Sünden bereu-en und allen Menschen verzeihen, weil Christus im Evangelium sagt:
›Wenn ihr den Menschen ihre Sünden nicht verzeiht, wird auch euer Vater im Himmel euch nicht eure Sünden vergeben.‹ Deshalb mußt du, Schwester Colette, dir in deinem Herzen vornehmen, dieses heilige Gebet alle Zeit deines Lebens mit Gehorsam, Reinheit und allen anderen Tugenden, die der Herr dir geben will, zu achten. Daher bitten wir den Guten Herrn, der den Jüngern Christi die Kraft verlieh, das Vaterunser reinen Herzens zu sprechen, daß er auch dir diese Kraft zukommen lasse, zu seiner Ehre und zu deinem Heil!«
Der Geistermönch nahm ein dünnes Büchlein vom Altar, hielt es vor das Mädchen und fuhr fort: »Schwester Colette, willst du dieses heilige Gebet entgegennehmen und es alle Zeit deines Lebens in Reinheit, Wahrheit, Demut und allen anderen Tugenden, die der Herr dir geben will, bewahren?«
Nach kurzem Zögern antwortete Colette: »Ja, ich will. Bittet den Vater der Guten Seelen, daß er mir seine Kraft schenke!«
Der Vermummte überreichte ihr das Büchlein mit den Worten: »Der Vater der Guten Seelen schenke dir die Gnade, das Vaterunser zu seiner Ehre und zu deinem Heil entgegenzunehmen! Und nun sprich das Gebet mit mir, Wort für Wort.«
Sie beteten gemeinsam das Vaterunser, das ich als Klosterzögling besser kannte als mancher andere. Mir fiel gleich auf, daß sie nicht um
›unser tägliches Brot‹ baten, sondern um ›unser seelisches Brot‹. Und statt ›wie wir vergeben unseren Schuldnern‹ sagten sie, ›wie wir vergeben unseren Verfolgern und Peinigern‹.
Der Geistermönch faßte die Frau an den Armen und zog sie hoch, während er sagte: »Der Vater der Guten Seelen segne dich. Er sei gebeten, daß er dich zu einem Guten Menschen mache und dich zu einem guten Ende führe.« Er umarmte sie. Anschließend trat sie zurück und setzte sich auf eine der vorderen Bänke.
»Brüder und Schwestern«, fuhr der Geistermönch fort, »ihr seid gekommen, um eure Seelen zu reinigen. Wie auch Christus kam, nicht um den Schmutz vom Fleisch abzuwaschen, sondern um den Schmutz von den Guten Seelen abzuwaschen, die durch die Berührung mit bösen Geistern befleckt worden waren. Denn das Fleisch ist der Schmutz. Daher gefiel es dem hochheiligen Vater, sein Volk durch die Taufe seines heiligen Sohns Jesus Christus vom Schmutz der Sünden zu reinigen. Doch das Böse ist noch nicht besiegt, der Schmutz nicht entfernt. Er bedeckt
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