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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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traten die drei Italiener zu mir.
    War der Augenblick gekommen, das Lamm zu opfern? In ängstlicher Erwartung starrte ich auf die Griffe ihrer Waffen. Da fuhr Leonardo mit der Hand an seine Seite und zog etwas hervor. Ich zuckte zurück, aber es war nur ein irdenes Fläschchen, das er entkorkte.
    »Trinkt das, es ist noch besser als heißer Wein.«
    Scharfer Geruch kitzelte meine Nase und entlockte ihr ein Niesen.
    Leonardos Begleiter kicherten.
    »Was ist das?« fragte ich vorsichtig, als ich die kleine Tonflasche zur Hand nahm.
    »Aqua vitae«, sagte Leonardo lächelnd. »Lebenswasser. In meiner Heimat geben die Ärzte es gegen alle nur erdenklichen Krankheiten, gegen Augentränen, fauligen Atem, Wassersucht, eitrige Wunden und Vergiftungen.«
    »An nichts von alldem leide ich«, entgegnete ich, das Fläschchen weiterhin unschlüssig in der Hand haltend. Vielleicht half der Trank nicht gegen Vergiftung, sondern rief sie hervor.
    »Auch Gesunde können sich am Lebenswasser laben, es wärmt besser als das heißeste Feuer.« Leonardo nahm das Gefäß wieder an sich, trank einen tiefen Schluck und reichte es seinen Gefährten weiter. Der Schwarzhaarige, Tommaso, hielt es schließlich wieder mir hin. »Nun trinkt schon!« sagte Leonardo mit breitem Grinsen. »Meine Freunde und ich leben auch noch.«
    Also trank ich – und hätte die Flasche fast fallen lassen, so heiß brannte es in meinen Eingeweiden. Wie eine im Feuer erhitzte Klinge, die man mir tief ins Fleisch gestoßen hatte. Die Wärme blieb, die Schärfe aber verging rasch und hinterließ ein wohliges Gefühl und einen angenehmen Geschmack in meinem Mund.
    »Nehmt ruhig noch einen Schluck, Signore«, lachte Leonardo. »Ihr könnt’s gebrauchen!«
    Beim zweiten Schluck war ich auf das flüssige Feuer vorbereitet. Obgleich ich nackt im Raum stand, spürte ich nicht mehr das geringste Frösteln. Ich reichte Leonardo sein Aqua vitae zurück. »In Eurer Heimat verstehen die Ärzte ihr Geschäft, Monsieur. Wo stand Eure Wiege?«
    »In Anchiano.«
    Ich sah ihn ratlos an.
    »Kein Wunder, daß Ihr es nicht kennt, Signore. Es ist nur ein kleines Bauerndorf in der Nähe des Städtchens Vinci.«
    »Auch das kenne ich nicht«, gestand ich ein.
    »Es liegt etwa auf halber Strecke zwischen Florenz und Pisa, näher an Florenz. Mein Vater war ein kleiner Dorfnotar, aber sein Sinn stand nach Höherem. Als ich geboren wurde, war er im Begriff, die Tochter eines angesehenen Florentiner Notars zu ehelichen. Meine Mutter aber war nur ein Bauernmädchen, wurde nach Erfüllung ihrer Pflicht mit einem Säckchen Silberlinge abgefunden und verschwand aus meinem Leben, bevor es noch so recht begonnen hatte. Seltsam, wie?«
    »Gar nicht«, erwiderte ich ernst. »Ich kenne weder meinen Vater noch meine Mutter.«
    »Nehmt’s leicht, aus Euch ist doch etwas Anständiges geworden. Immerhin hatte ich als Bastard den Vorteil, daß ich meine Nase nicht in verstaubte Gesetzesbücher stecken mußte. Bei uns im sonnigen Florenz nimmt die Gilde der Richter und Notare uneheliche Kinder nicht auf. Weder Arzt noch Apotheker konnte ich werden, auch die Universität blieb mir verschlossen.«
    »Ihr habt die Sache offenbar leicht genommen«, sagte ich bewun-dernd.
    »Es gibt viele Bastarde. Und Totengräber, Priester, sogar Kriminelle haben das gleiche Schicksal. Auch ihnen bleiben die ehrbaren Berufe versagt.« Der Italiener zuckte mit den Schultern. »Wer sich beklagt, erfreut die Herzen seiner Feinde. Ich habe meine eigenen Studien betrie-ben und mich mit der Kunst beschäftigt.«
    Colin kehrte zurück, einen Kleiderstapel unter einem Arm und in der anderen Hand einen Tonkrug. Während ich mich abrieb und die ge-tragenen, aber sauberen Kleider überstreifte, goß der Bettler dampfenden, duftenden Würzwein in einen Holzbecher. Ich leerte ihn schnell, zu schnell. Vielleicht war auch das kurz zuvor genossene Lebenswasser schuld: Schweiß brach mir aus. Mein Schädel brummte, ich hörte sogar das Läuten einer Glocke.
    Aber da sagte Leonardo: »Die Glocke ruft zum Vaterunser.«
    Ein kleinwüchsiger Mann betrat den Raum, schwang eine kleine Bronzeglocke, ähnlich der, die über der Tür des Pfandleihers gehangen hatte, und rief in einem monotonen Singsang: »Ihr Guten Menschen, kommt zum Gebet, sputet euch, eh die Sonne vergeht!« Darauf verließ er den Raum wieder, unablässig läutend und rufend, was mir hier, unter der Erde, recht seltsam vorkam. Als wolle er mit dem Ge-läut die Toten wecken.
    »Einer

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