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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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in der Hand und versuchte, den Schmerz zu ignorieren, wenn sich harte Zweige oder spitze Steine in seine schuhlosen Füße bohrten.
    »MAAARTHAAAAA!«
    Erneut blieb er stehen. Sie schien sich regelrecht in Luft aufgelöst zu haben. Er blickte an den hohen Bäumen empor, als wären es Fremde, die ihm helfen könnten, doch begegneten sie ihm mit nichts als Schweigen. Er steckte das Buch wieder unter seinen Pullover und sah sich in alle Richtungen um.
    Die Stämme standen so dicht beieinander, dass man nirgends weit gucken konnte. Ihre Kronen schienen den Himmel vollkommen zu verdecken. Er schimmerte nur durch winzig kleine Lücken, wie Sterne in einer klaren Nacht.
    Samuel blickte mit zusammengekniffenen Augen in das tiefgrüne Dunkel, doch Martha blieb verschwunden. Er
wusste auch nicht mehr, woher er gekommen war. Es gab keine Lücke zwischen den Bäumen, die den Blick auf den Fjord oder die Berge freigegeben hätte. Auch von Tante Eda war keine Spur zu sehen.
    Der Kompass in seinem Gehirn arbeitete nicht mehr zuverlässig. Er sagte ihm weder, welche Richtung er einschlagen musste, um den grünen Hügel und das weiße Holzhaus zu erreichen, noch, wo Martha zu finden war.
    Fast schien es ihm, als würden die Bäume um ihn herum ihre Stellung verändern - wie die Wolken am Himmel.
    »Martha, bitte! Martha!«
    Samuels Stimme war leiser geworden. Sie klang jetzt weder ängstlich noch sonderlich zuversichtlich.
    »Wer ist da?«, fragte er und hielt inne. Er meinte, hinter sich das Knacken eines Zweiges gehört zu haben. »Martha, bist du’s?«
    Doch sie war nirgends zu sehen.
    Dann hörte er ein weiteres Knacken und deutlich vernehmbare Schritte. Sie kamen näher.
    Samuel wartete, wer sich zeigen würde.
    »Hallo?«, sagte er.
    Da niemand antwortete, glaubte er, es sei womöglich seine Schwester.
    Das Herz schlug ihm bis zum Hals, während er wartete.
    »Martha?«
    Die Angst machte es ihm unmöglich, sich zu bewegen. In der Ferne hörte er ein Geräusch. Einen leisen Schrei, als falle jemand. War das Martha?
    »Martha!«, rief er. Doch dann hörte er etwas anderes.
    Ein Bellen.
    Er drehte sich um und erblickte Ibsen.
    Der Hund bellte erneut.
    »Geh zurück!«, sagte Samuel. »Geh zu Tante Eda!«

    Ibsen kläffte weiter, doch keiner von ihnen schien dem anderen zuhören zu wollen.
    »Geh nach Hause!«, versuchte es Samuel erneut.
    Weiteres Kläffen.
    »Komm schon, du blödes Vieh, geh nach Hause!«
    Ibsen hörte auf zu bellen, bewegte sich aber nicht vom Fleck.
    Samuel ging tiefer in den Wald hinein. Ibsen folgte ihm.
    »Ach, mach doch, was du willst«, brummte Samuel, »aber ich werde nicht zurückgehen, auch wenn du meinen ganzen Pullover in Stücke reißt.«
    Der Hund senkte den Kopf, als hätte er verstanden, während Samuel wieder den Namen seiner Schwester rief.
    »Mar-thaaa! Mar-thaaa!«
    Er ging weiter dorthin, wo er das Schreien gehört hatte, während ihm der ängstliche Ibsen nicht von der Seite wich.

Das Niesen
    W ährend Samuel und Ibsen alles versuchten, um Martha zu finden, versuchte Martha alles, um sich zu verstecken. Sie hatte sich ganz und gar mit Federn bedeckt und lag vollkommen still auf dem Boden der Grube.
    Dort hörte sie Folgendes:
    Sich nähernde Schritte.
    Das Klirren von Schlüsseln.
    Gedämpfte Stimmen.
    Einen Schlüssel, der in ein Schloss glitt.
    Eine Tür, die sich knarrend öffnete.
    Die Stimmen wurden lauter, doch sie unterhielten sich in einer Sprache, die Martha noch nie gehört hatte. Sie klang ein bisschen wie Norwegisch, doch gleichzeitig vollkommen anders.
    Erste Stimme: »Enna fregg oda blenf?«
    Zweite Stimme: »Ven! Froga oda klumpk!«
    Erste Stimme: »Kyder fregg lossvemper.«
    Zweite Stimme: »Froga oda blenf. Froga oda caloosh!«
    Mit menschlichen Stimmen hatten diese Stimmen wenig gemein. Ihr Flüstern klang eher wie ein unheimlicher Wind, der in den Bäumen rauschte, nur eben ein Wind, der deutlich vernehmbare Wörter sprach.
    Martha wusste nicht, dass es Stimmen von Huldren waren und sie soeben in eines der vielen Löcher gefallen war, die
dazu dienten, niemand in den Wald hinein- oder herauskommen zu lassen.
    Obwohl Martha ihre Sprache nicht verstand, spürte sie, dass sie in großer Gefahr schwebte. Sie wollte nicht in den Federn gefangen bleiben, doch was sie auch immer hinter der Tür erwartete, würde sicher noch schlimmer sein.
    Also beschloss sie, sich ganz ruhig zu verhalten und darauf zu warten, dass die beiden Kreaturen wieder verschwanden.
    Doch ruhig bleiben

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