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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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Blick zu, als wolle er ihr etwas mitteilen. Eine Entschuldigung? Eine Erklärung? Doch was immer es war, sie würde es doch nicht verstehen, also ging er davon. Vjpp wartete noch einen Moment, ehe er seinen blauen Speichel durch Marthas Gitterstäbe spuckte. Dann drehte auch er sich um und ging den Gang hinunter.
    Nachdem Vjpps höhnisches Lachen verklungen und sein zuckender Schwanz in der Dunkelheit verschwunden war, betrachtete Martha die Insassen der anderen Zellen.
    Eine alte Frau, die ein weißes Gewand und ein weites Tuch trug und deren weiße Haare bis zu den Fußgelenken reichten, betrachtete sie von der gegenüberliegenden Zelle aus.
    Ein Stück weit den Korridor hinunter erblickte sie eine furchterregende Gestalt mit zwei Köpfen, deren vier Augäpfel hinter den hölzernen Gitterstäben starr auf sie gerichtet waren. Beide Köpfe hatten Bärte und zottelige schwarze Haare, doch der rechte Kopf sah sehr viel mürrischer aus als
der linke. Martha vermutete ganz richtig, dass es sich um einen Troll handelte. Einen zweiköpfigen Troll. Sie wusste zwar nichts von der Beschreibung der Trolle in Die Geschöpfe des Schattenwalds , doch der Anblick der Kreatur reichte aus, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen.
    Dann hörte sie ein Geräusch, das aus ihrer Nebenzelle kam. Jemand hatte zu singen begonnen, allerdings nicht besonders schön:
    Was immer geschieht
ich singe ein Lied
ist mir auch schwer ums Herz

    ein lustiger Reim
passt in jedes Heim
ein Tomtegubb kennt keinen Schmerz
    Martha wunderte sich, wer imstande war, in einem unterirdischen Gefängnis ein so fröhliches Lied zu singen. Sie drehte sich um und erblickte einen Tomtegubb (obwohl sie natürlich nicht wusste, dass es sich um einen Tomtegubb handelte). Es war derselbe, den Samuel und Tante Martha gesehen hatten, während er von den Huldren überwältigt wurde (was Martha ebenfalls nicht wissen konnte). Seine Gestalt entsprach in etwa der einer Tonne. Sein kurzer Körper war gedrungen, und sein Hals, sofern er überhaupt einen besaß, nicht zu erkennen. Er hatte eine goldene Haut, buschige Augenbrauen und eine flache Nase mit blonden Schnurrhaaren, die von seinem Gesicht abstanden wie die Strahlen einer Sonne.
    Auch seine Kleidung war sehr ungewöhnlich. Er trug ein weites Hemd, das aus bunten Flicken bestand, die grün, gelb und rot leuchteten. Das Hemd war kurz und bedeckte nur seinen halben Körper. Die andere Hälfte steckte in einer violetten
Hose. Wie die Mitgefangenen Martha hätten erzählen können, war diese Hose sogar Gegenstand eines vom Tomtegubb selbst geschriebenen Lieds, dem »Lilahosensong«. Es war ein sehr langes Lied mit 22 Strophen und drei verschiedenen Refrains, das der Tomtegubb als sein Meisterwerk betrachtete.
    Seine Kleidung machte in dem dunklen, schmuddeligen Gefängnis einen lächerlichen Eindruck, doch noch lächerlicher in Anbetracht der deprimierenden Umstände war sein breites Lächeln.
    Der Troll mit den zwei Köpfen schien erleichtert, als für einen Moment Ruhe eingekehrt war, doch kurz darauf begann der Tomtegubb mit dem nächsten Lied.
    Es gibt zwar keine Fenster
und nicht einmal ein Bett
doch auch ganz ohne Luxus
find ich’s hier richtig nett
    Das Lied veranlasste den doppelköpfigen Troll, sich die rechte und die linke Stirn zu reiben. »Ich bitte dich, Tomtegubb!«, sagte sein mürrischer rechter Kopf.
    Auch in miesen Zeiten
nach Pannen und Pleiten
gibt es nur eins zu tun

    lasst uns tanzen und lachen
und Späße machen
denn bald schon werden wir ruhn
    Der Gesang des Tomtegubbs, begleitet vom Stöhnen des Trolls, der unter doppeltem Kopfweh litt, dauerte eine Weile an.

    Während dieser Zeit zog sich Martha in den hintersten Winkel ihrer Zelle zurück und streckte die Beine aus. Sie betrachtete die übrigen Gefangenen und fragte sich, was sie ihr tun würden, wären ihre Zellen nicht durch Gitterstäbe voneinander getrennt. Würden sie sie umbringen? Sie blickte zur alten weißhaarigen Frau in der gegenüberliegenden Zelle hinüber, die sie mit freundlichen Augen anschaute. Konnte man dieser Freundlichkeit trauen?
    Sie wusste es nicht.
    Sie wusste nur, dass sie gerade ihr Kleid schmutzig machte - ein Kleid, das sie von ihren Eltern zum Geburtstag bekommen hatte -, doch niemand war da, um mit ihr zu schimpfen.

Aufsteigender Rauch
    W ährend er immer noch dorthin lief, wo er den Schrei gehört hatte, bemerkte Samuel noch etwas anderes.
    Rauch.
    In einiger Entfernung stieg er vom Boden auf. Ibsen

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