Im Schattenwald
Samuel. »Sie ist nicht oben.«
Tante Eda drehte sich zu ihm um. Als sie ihn anblickte, schien sie von einer plötzlichen Panik ergriffen zu werden.
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«, fragte sie.
»Vor zehn Minuten«, antwortete er. »Ich war …«, begann er, hielt aber rechtzeitig inne. Fast hätte er verraten, dass er auf dem Dachboden gewesen war.
Tante Eda ließ ihren Blick durch den kleinen, fensterlosen Raum schweifen. Nach all den Jahren roch es hier immer noch nach Käse. »Ich bin seit fünf Minuten hier«, sagte sie wie zu sich selbst. Dann rief sie plötzlich: »Schnell, schau aus dem Fenster!«
Samuel lief in die Küche und schaute aus dem Fenster. Das Buch trug er immer noch unter seinem Pullover. Er sah nichts als die Wiesen, den Fjord und die Berge in der Ferne.
»Nein, nein!«, erregte sich Tante Eda, »ich meine das Wohnzimmerfenster!«
Sie liefen in Richtung Wohnzimmer, doch Tante Eda blieb in der Tür stehen.
»Ihre Schuhe«, sagte sie. »Ihre Schuhe sind nicht mehr da.«
Samuel blickte aus dem Fenster, das sich über Ibsens Korb befand. Der Hund streckte sich schläfrig in Anbetracht der plötzlichen Aufregung. Samuel kniff die Augen zusammen, doch außer der leeren Wäscheleine und dem zum Wald ansteigenden Hang konnte er nichts …
Dann sah er etwas. Einen entfernten Punkt. Als er sich auf diesen Punkt konzentrierte, erkannte er, dass es sich um eine Person handelte, die geradewegs auf den Wald zuging.
»Nein!«, schrie Samuel, als er das dunkelblaue Kleid seiner Schwester erkannte, das sich im Wind blähte.
Samuel rannte aus dem Zimmer, den Korridor entlang, schoss an seiner Tante vorbei und riss die Haustür auf. Draußen
spurtete er den Hang hinauf, Martha und dem Wald entgegen. Er zerrte das Buch unter seinem Pullover hervor und hielt es mit der rechten Hand fest. Er spielte mit dem Gedanken, es einfach fallen zu lassen, doch falls Martha wirklich vor ihm den Wald erreichte, würde es ihm noch von Nutzen sein.
»Martha, bleib stehen! Martha!«
Während er ihr immer näher kam, spürte er kaum den Wind, der ihm ins Gesicht schlug, oder den matschigen Untergrund, der seine Socken zusehends aufweichte.
»Martha!«, rief Tante Eda. »Samuel, Samuel!«
Doch auch die Stimme seiner Tante hörte er nur von ferne. Ihm war, als würde sie einen anderen Samuel rufen, der neben ihm herlief.
»Marth-aaaa!«, schrie er.
Er konzentrierte sich ganz auf den dunkelblauen Punkt, in dem er immer deutlicher seine Schwester erkannte. Er achtete nicht einmal auf die lehmigen Hufabdrücke, die von den Hengsten der Huldren aus der vergangenen Nacht stammten.
»GEH NICHT IN DEN WALD!« Er schrie sich fast die Lunge aus dem Hals. Jetzt konnte er ihre langen Haare erkennen, die sich genauso im Wind wiegten wie die Zweige der großen Bäume, denen sie entgegenlief.
»MARTHA! BLEIB STEHEN! IM WALD SIND HULDREN! TROLLE!«
Martha stapfte unbeirrt weiter, doch war sie immer noch so weit entfernt, dass Samuel sie unmöglich einholen konnte.
»KOMM ZURÜCK, MARTHA! KOMM ZURÜCK!«
Martha gab mit keiner Geste zu erkennen, dass sie ihren Bruder überhaupt gehört hatte. Sie setzte ihren Weg einfach fort, weder langsamer noch schneller als zuvor, bis sie die ersten Bäume erreichte.
Immer weiter ging sie, ehe sie im Dunkel des Waldes verschwunden war.
Den Hügel hinauf
S ie war fort.
Samuel lief auf die Stelle zwischen den Bäumen zu, wo er seine Schwester eben noch gesehen hatte, und spähte in die Dunkelheit.
»MARTHA! KOMM ZURÜCK! MARTHA!«
Er lief sehr schnell, schneller als damals, als er hinter der Katze hergejagt war. Tante Eda gab sich alle Mühe, ihn einzuholen.
Doch er hatte schon einen ziemlichen Vorsprung. Nur mit Socken war er aus der Tür gerannt, während Tante Eda noch aus dem Fenster geschaut hatte. Und Samuel lief in solchem Tempo und mit solcher Zielstrebigkeit, dass die alten Beine seiner Tante einfach nicht Schritt halten konnten.
»Lauf ihr nicht nach!«, rief sie atemlos. »Geh nicht in den Wald!« Doch natürlich waren ihre Worte nutzlos, denn Samuels Angst vor dem Wald war längst nicht so groß wie diejenige, seine Schwester zu verlieren.
Obwohl sie ihm die Geschichte von Onkel Henrik erzählt hatte, wusste sie ganz genau, dass er es dennoch für möglich hielt, in den Wald einzudringen und seine Schwester zurückzuholen. Schließlich war Martha erst vor wenigen Sekunden zwischen den Bäumen verschwunden.
Doch Tante Eda wusste es besser. Sie wusste, dass die
Weitere Kostenlose Bücher