Im Schattenwald
näher herankam, erwiesen sich die dunklen Punkte als ein Mädchen und ein Tomtegubb, die auf weißen Pferden ritten. Sie landete direkt vor ihnen und nötigte sie anzuhalten, weil sie im selben Moment die Gestalt einer Hexe annahm.
Die Veränderungen
S teig ab!«, rief der Tomtegubb Martha zu. »Steig ab und lauf ins Dickicht! Du musst deinen Schatten schützen!«
Die Schattenhexe versuchte, den Tomtegubb mit einem Stillezauber zum Schweigen zu bringen, doch sie hatte keine Macht über ihn. Trotz ihrer tonnenförmigen Gestalt werfen Tomtegubbs nicht den geringsten Schatten, nicht einmal bei strahlendstem Sonnenschein. Sie werfen vielmehr einen umgekehrten »Schatten«, der den Boden zwischen ihren Füßen heller erscheinen lässt als zuvor.
»Schnell, beeil dich!«, rief er Martha zu, doch es war zu spät. Martha war zwar vom Pferd gestiegen, doch bevor sie Schutz zwischen den Bäumen suchen konnte, hatte die Schattenhexe ihren Zauber vollendet.
Martha starrte auf den Boden und sah, wie ihr Schatten sich von ihren Füßen löste. Als dunkler Nebel stieg er in die Luft und verschwand schließlich im Mund der Schattenhexe.
»Tut mir leid, Menschenkind«, sagte die Schattenhexe.
Sie verwandelte sich in einen Raben zurück und flog davon.
Der Tomtegubb wandte sich Martha zu und wirkte dieses eine Mal wirklich bedrückt. »Oh, nein«, sagte er. »Jetzt wirst du dich verändern.«
Und er hatte Recht.
Martha spürte, wie ihr Kleid kleiner wurde und sich so eng um sie schloss, als wäre es eine zweite Haut. Es juckte sie überall und plötzlich wuchsen blaue Federn - in derselben Farbe wie das Kleid - aus ihren Armen. Das sah so merkwürdig aus, dass sie kaum wahrnahm, wie sie gleichzeitig schrumpfte.
Ausnahmsweise war der Tomtegubb sprachlos. Dennoch konnte er nicht anders, als in seinem Kopf weiter an der letzten Strophe von Der siegreiche Tomtegubb und der heldenhafte Mensch zu feilen.
Was dann geschah, das glaubt ihr nie aus Mädchen wurde Federvieh
Martha breitete ihre Flügel aus und erhob sich in die Luft. Sie hatte das Gefühl, sie wäre schon ihr ganzes Leben lang geflogen, hätte sie doch nur Flügel gehabt.
Stieg in die Luft mit Adlerschwingen davon kann ich ein Lied euch singen
Martha flog über den Wald, entdeckte die Schattenhexe und beschloss, ihr zu folgen - in der Hoffnung, sie würde sie wieder in einen Menschen zurückverwandeln.
Die Schattenhexe erblickte einen vertrauten Hundeschwanz und stieß hinunter, um ihn sich genauer anzusehen. Martha folgte ihr, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie genau den Baum ansteuerte, unter dem ihr Bruder schlief. Sie setzte sich auf einen der Äste, während der Rabe ein Stück weit entfernt landete und sogleich wieder die Gestalt der Schattenhexe annahm.
Ibsen erwachte und knurrte.
»Sieh mal einer an«, sagte die Schattenhexe zu dem Elchhund, »so treffen wir uns wieder.«
Ibsen bellte, um Samuel zu wecken, und entfernte sich aus dem Schatten.
»Was ist los, Ibsen?«, fragte Samuel.
Ibsen rannte auf die Schattenhexe zu, sprang an ihr hoch und schnappte nach ihrem Hals. Als Samuel die Augen öffnete, sah er eine alte Frau mit langen schwarzen Haaren und einem langen schwarzen Umhang, aus deren Mund beim Sprechen schwarze Wolken kamen.
»Still!«, sagte die Schattenhexe. Der Hund fror daraufhin in der Luft regelrecht fest, wie auf einem Foto.
»Schlaf!« Dieses Wort ließ Ibsen langsam zu Boden sinken. Als er ihn berührte, war er bereits in tiefen Schlaf gefallen.
»Was haben Sie mit meinem Hund gemacht?«
Martha wartete darauf, dass sich Samuel in einen Vogel verwandelte, doch nichts geschah. Die Schattenhexe wusste, dass Vögel miteinander sprechen konnten. Und dass sich die beiden Kinder, wenn auch als Vögel, weiter miteinander unterhielten, wäre sicher gegen den Willen ihres Meisters gewesen. Sie musste also an ein anderes Tier denken. In diesem Moment hoppelte gerade eines über den Weg.
»Bitte«, sagte Samuel, während er aufstand. »Bitte tu mir nichts. Ich bin nur im Wald, um meine Schwester zu finden.«
Als Samuel das schützende Blätterdach verließ, zeichnete sich sogleich sein Schatten wie ein schwarzer Teppich in der Morgensonne ab. Er lief quer über ihn hinweg und hatte plötzlich ein sonderbares Gefühl der Leichtigkeit. Sein Schatten stieg als schwarze Wolke in die Luft, die in den offenen Mund der Hexe trieb.
Die Hexe schloss die Augen und murmelte einige Wörter, die wie Insekten in Samuels Ohren krochen.
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