Im Schattenwald
Nu war er vom Fahrrad gestiegen und ins Haus gerannt. Drei Stufen auf einmal nehmend, war er die Treppe in den ersten Stock hinaufgesprungen und hatte das Schlafzimmerfenster aufgerissen.
»Komm, kleines Kätzchen, na komm, es ist alles in Ordnung«, sagte er, während er seinen Arm ausstreckte und behutsam den Nacken der Katze zu packen bekam.
Horatio betrachtete ihr Halsband. Das schützende HEK-Halsband, das der Schattenhexe genug Kraft gegeben hatte, um sich über eine Stunde an der Regenrinne festklammern zu können.
»Hek«, las er laut. »Wer benennt denn eine Katze nach einer Hexe? Es sei denn … du bist eine Hexe.«
Die Katze sprang die Treppe hinunter und aus dem Haus, um gemeinsam mit der weißen Katze sofort auf den Wald zuzulaufen.
Das Rätsel löste sich erst am nächsten Tag, als Professor Tanglewood den Wald erkundete und auf die Pixies und all die anderen Kreaturen stieß, die seine Mutter und er vor vielen Jahren gesehen hatten.
In diesem Moment wurde ihm klar, dass er die jenseitige Welt nicht mehr brauchte.
Was ist schon diese Welt gegen jene.
Er wusste, dass er in diesem wundervollen Wald ein neues Leben beginnen konnte.
Er begegnete freundlichen Huldren, aß die köstliche Suppe der Wahrheits-Pixies und genoss die erholsamen Schläfchen auf dem Bauch eines großen pelzigen Wesens namens Slemp. Doch was er am meisten genoss, war die völlige Abwesenheit anderer Menschen. Er befand sich allein in einer Welt, in der es das herrlichste Essen, die schönste Musik und den friedlichsten Schlaf gab. Er erfreute sich an der klaren Luft, dem sauberen Wasser und einer so wunderbaren Landschaft, wie sie einem sonst nur in den glücklichsten Träumen begegnet.
Kurzum, der Professor hatte sein Paradies gefunden, und es sollte alles noch besser kommen. Eines Nachts, als er mit einem älteren Huldren über die Verehrung der Sonne sprach, begegnete er zwei wunderschönen Frauen.
Sie sahen fast identisch aus, abgesehen davon dass eine dunkelhaarig, die andere blond war.
»Darf ich mich vorstellen«, sagte er, »ich bin Professor Horatio Tanglewood. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört.«
»Guten Tag«, sagte die blonde Frau, aus deren Mund Frostrauch kam. »Ich bin die Schneehexe. Und das ist meine Schwester, die Schattenhexe.«
»Guten Tag«, sagte die andere, deren Worte von Schatten begleitet wurden. »Du hast mein Leben gerettet.«
Der Professor war entzückt. »Habe ich das?«
»Ich war die Katze, die beinahe zu Tode gestürzt ist.«
»Oh«, sagte der Professor, »ja natürlich, ich erinnere mich.«
Die Schattenhexe nickte. Sie hob ihr Handgelenk und enthüllte ein schwarzes Armband, an dem eine kleine Scheibe aus Zinn befestigt war. Er entdeckte ein identisches - weißes - Armband am Handgelenk der Schneehexe.
»Du hast meiner Schwester das Leben gerettet«, sagte die Schneehexe, auf deren weißem Gesicht sich ein Lächeln abzeichnete.
»Du bist freundlich und hilfsbereit, nicht so wie andere Menschen, die Wälder abholzen und die Natur zerstören. Darum war meine Schwester auch auf dem Dach. Wir wollten uns vergewissern, dass der Wald nicht in Gefahr ist.«
Professor Tanglewood war zu diesem Zeitpunkt äußerst fasziniert. Er wandte sich der Schattenhexe zu, die, sofern das überhaupt zu entscheiden war, ihre Schwester an Schönheit noch übertraf. »Ich habe also dein Leben gerettet«, sagte er. »Was bedeutet das?«
»Von nun an werde ich dir zu Diensten sein«, entgegnete die Schattenhexe. »Ich werde jeden Zauber sprechen, den du wünschst.«
Professor Tanglewood nickte, als hätte er mit nichts anderem gerechnet.
»Welcher Zauber bist du mächtig?«, fragte er die Schattenhexe und hob dabei eine Braue, weil er glaubte, so unwiderstehlich gut auszusehen.
»Aller Zauber, solange sie den Wald betreffen. In der jenseitigen Welt bewirkt mein Zauber nichts, doch alles im Wald kann ich verändern.«
»Du hast der richtigen Hexe das Leben gerettet«, sagte die Schneehexe. »Ihre Magie ist weitaus größer als meine. Ich kann Schnee und Frost heraufbeschwören und andere Wetterzauber sprechen, doch nichts geht über die Künste einer Schattenhexe.«
»Sehr interessant«, sagte der Professor. »Wirklich sehr interessant.«
Der erste Wunsch des Professors war ein neues Zuhause. Ein hölzerner Palast, der sich innerhalb des größten Baumes im Wald befinden sollte.
Als Zweites wünschte er sich einen Stift und Papier. Die Schattenhexe erfüllte diesen Wunsch mittels einer
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