Im Schloss des spanischen Grafen
verdattert über Alejandros völliges Desinteresse an dem Jungen. Sie hätte wesentlich mehr Neugier erwartet. „Willst du mir keine Fragen stellen?“ Ihr Blick ruhte auf Alfie, der bereits seine Spielzeugautos aus der Kiste holte und sie in einer ordentlichen Reihe aufstellte.
„Die ansässige Kanzlei, die mit der Vertretung meiner Interessen beauftragt wird, kann die Fragen stellen“, erwiderte Alejandro nüchtern.
„Du bist also überzeugt, dass der Junge nicht von dir ist.“
Für einen Moment blitzten Alejandros schwarze Augen auf. „Wie könnte er das sein?“
Frustration schoss in Jemima auf. Für einen Moment hatte sie das Bedürfnis, Alejandros Brust mit den Fäusten zu bearbeiten, damit er ihr endlich zuhörte. Doch erstens war sie nicht gewalttätig, und zweitens … Er hatte ihr nie zugehört, und so, wie es um ihre Beziehung stand, würde er ihr jetzt erst recht nicht zuhören. War das nicht ebenfalls ein Grund, weshalb sie gegangen war? Weil sie ständig das Gefühl gehabt hatte, mit dem Kopf gegen eine undurchdringliche Mauer zu rennen? Wie konnte sie bei einem Mann bleiben, der glaubte, sie hätte eine Affäre mit seinem Bruder?
Während sie in der Küche Kaffee aufbrühte, traf sie eine Entscheidung. Sie nahm das Telefon, rief Flora an und bat die Freundin, eine Stunde auf Alfie aufzupassen. „Alejandro ist hier“, erklärte sie steif.
„In fünf Minuten bin ich bei dir und hole den Jungen ab“, versprach Flora.
Auf Flora war Verlass, sie kam wenig später und nahm Alfie mit. Danach jedoch senkte sich bleiernes Schweigen über den Raum.
Jemima streckte den Rücken durch, sie hielt es nicht mehr aus. „Ich wiederhole mich nur ungern, aber du zwingst mich dazu … Ich habe nie mit deinem Bruder geschlafen.“
Alejandro warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Er hatte immerhin genügend Mut, es nicht abzustreiten.“
Wut schäumte in ihr auf. „Aha. Marco hat es nicht abgestritten, was automatisch heißt, dass ich lüge!“
„Mein Bruder hat mich noch nie angelogen. Was man von dir nicht unbedingt behaupten kann.“
Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Was redest du da? Wann soll ich dich angeblich angelogen haben?“
„Als wir noch zusammenlebten, hast du Abertausende von Euro ausgegeben, ohne irgendetwas für deine Extravaganz vorzeigen zu können. Du konntest nicht einmal für eigene Ausgaben aufkommen, trotz des großzügigen Betrags, den ich dir monatlich zur Verfügung stellte. Irgendwo in diesem finanziellen Chaos muss es Lügen gegeben haben.“
Jemima wurde bleich. Die Vorwürfe waren nicht abzustreiten. Sie hatte tatsächlich erschreckend hohe Summen ausgegeben, wenn auch nicht für sich selbst. Und während der letzten Wochen hatte sie nicht einmal mehr die eigenen Rechnungen bezahlen können, denn da hatten sämtliche ihrer Sünden sie eingeholt. Nur weil sie eine – wie ihr damals beim ersten Kennenlernen schien – harmlose Lüge erzählt hatte.
„Hast du Marco das Geld gegeben?“, fragte Alejandro harsch. „Er ist schon immer verschwenderisch mit Geld umgegangen. Ich kann mir gut vorstellen, dass er an dich herangetreten ist.“
Für den Bruchteil einer Sekunde war Jemima versucht, sich mit einer weiteren Lüge herauszureden, doch dann senkte sie über sich selbst beschämt den Kopf. Einerseits ärgerte sie sich maßlos über Alejandros Bruder, weil er den Vorwurf einer angeblichen Affäre mit ihr nicht laut und deutlich bestritten hatte, andererseits empfand sie genügend echte Zuneigung zu Marco, um ihn nicht zu verraten. „Nein, Marco hat mich nie um Geld gebeten.“
Alejandro bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. „Ich nehme an, du stehst noch immer in Kontakt mit ihm?“
Eine Frage, die sie überraschte. „Nein. Ich habe nicht mehr mit ihm gesprochen, seit ich aus Spanien weggegangen bin.“
„Erstaunlich. Wo ihr doch so vertraut miteinander wart.“
Mühsam schluckte Jemima ihren Ärger hinunter. Nicht zum ersten Mal stand sie kurz davor, die Wahrheit hinauszuposaunen. Doch die Konsequenzen wären zu schwerwiegend. Außerdem hatte sie Marco hoch und heilig versprochen, sein Geheimnis nicht preiszugeben. Aus eigener Erfahrung konnte sie verstehen, weshalb der junge Mann es so unbedingt gewahrt wissen wollte. Und schließlich trug Marco nicht allein die Schuld am Scheitern ihrer Ehe.
„Seit zwei Jahren arbeitet Marco jetzt in unserer Galerie in New York, und du hast ihn nicht ein Mal aufgesucht? Aber er unterstützt doch
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