Im Schutz der Nacht
weiterentwickelt.
Ihr Blick wanderte zu ihrem Hochzeitsbild. Sie hatten ganz traditionell geheiratet; er hatte einen Smoking getragen; sie ein romantisches Seiden- und Spitzenkleid. Wie jung hatte sie damals ausgesehen, dachte sie, als ihr Blick in den Spiegel über der Kommode fiel und sie die beiden Bilder verglich. Damals hatte sie das braune Haar in einer glatten, mondänen Frisur getragen; inzwischen war es nur noch lang, und die Frisur beschränkte sich auf einen Pferdeschwanz oder eine Haarklammer. Damals hatte sie sich geschminkt; jetzt konnte sie von Glück reden, wenn sie Zeit fand, etwas Lippenbalsam aufzutragen. Damals brauchte sie sich um nichts Sorgen zu machen; inzwischen hatte die ständige besorgte Anspannung einen leichten Schatten unter ihre Augen gelegt.
Ihr Mund hatte sich nicht verändert; sie hatte immer noch einen leichten Entenschnabel, weil ihre Oberlippe voller war als die Unterlippe. Derek hatte ihren Mund sexy gefunden, aber das hatte sie ihm nie wirklich geglaubt, vor allem nachdem sie die ganze Teenagerzeit hindurch an diesem vermeintlichen Makel gelitten hatte. Michelle Pfeiffers Entenmund war viel subtiler und unendlich erotischer. Cates Mund hatte ihren kleinen Bruder Patrick wiederholt zu so langen Quak-Anfällen verleitet, dass sie einmal sogar mit einer Lampe nach ihm geworfen hatte.
Ihre Augen waren immer noch braun, sie waren heller und goldener als ihr Haar, aber dennoch ... braun. Langweilig braun. Und ihr Körper hatte die gleiche Statur wie eh und je, abgesehen von ihrer Schwangerschaft, als sie wirklich volle Brüste geschenkt bekommen hatte. Sie war schlaksig, schon fast dürr, und so gebaut, dass sie größer wirkte als die durchschnittlichen ein Meter siebzig, die sie maß. Wenn sie irgendwo kurvig war, dann am Hintern, der für den Rest ihres Körpers entschieden zu deutlich herausstach. Ihre Beine waren muskulös, die Arme dünn und sehnig. Alles in allem war sie keine Sexbombe; sie war eine ganz gewöhnliche Frau, die ihren Mann von ganzem Herzen geliebt hatte und ihn in Augenblicken wie diesem so schmerzhaft vermisste, dass sie seine Abwesenheit spürte wie ein Messer im Herzen.
Das dritte Foto zeigte sie zu viert: Derek, sie und die drei Monate alten Babys. Jeder hielt einen der Zwillinge im Arm, die mit winzigen, identischen Gesichtern in die Kamera starrten, während sie und Derek ihre Kinder mit einem so breiten, stolzen, dämlichen Grinsen betrachteten, dass Cate selbst jetzt am liebsten gleichzeitig losgelacht und -geheult hätte.
O Gott, ihnen war so wenig Zeit zusammen vergönnt gewesen.
Cate rief sich energisch in die Gegenwart zurück und blinzelte die Tränen aus ihren Augen. Nur nachts, wenn niemand es mitbekam, gestattete sie es sich zu weinen. Ihre Mutter und die Jungs konnten jeden Moment von ihrem Picknick zurückkehren, und sie wollte nicht mit rotgeweinten Augen von ihnen überrascht werden. Ihre
Mutter würde sich Sorgen machen, und die Jungs würden ebenfalls zu weinen anfangen, wenn sie glaubten, dass ihre Mutter geweint hatte.
Sie ging den alten, langen Schlüssel aus dem Bad holen, ließ ihn in die Jeanstasche gleiten und kehrte in den Korridor zurück, wo sie vor Zimmer 3 den Koffer und den Kulturbeutel abgestellt hatte. Sie schaltete das Licht im Gang ein, griff nach Koffer und Kulturbeutel und schleppte sie ans Ende des Ganges, wo sich die Speichertür befand und wo sie beides missmutig fallen ließ.
Die Tür zur Speichertreppe öffnete sich nach außen und gab danach den Blick auf drei Stufen frei, die zu einem kleinen Absatz führten; von dort aus führte die Treppe steil rechts hinauf, um in einer ziemlich unpraktischen Ecke im Speicher zu enden, so nahe an der Dachschräge, dass sie vor der letzten Stufe immer den Kopf einziehen musste. Wenigstens sollte sich die Tür nach außen öffnen. Sie schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn, doch nichts rührte sich. Das überraschte sie nicht weiter, da das Schloss ein bisschen schwer ging. Sie zog den Schlüssel etwas zurück und probierte es noch mal, wieder ohne Erfolg. Leise über alte Schlösser schimpfend, zog sie den Schlüssel ganz heraus und schob ihn dann Stück für Stück wieder hinein, wobei sie ihn immer wieder zu drehen versuchte. Der Bart musste nur auf die entsprechenden Zapfen treffen ...
Sie meinte ein leises Klicken zu hören und drehte triumphierend den Schlüssel mit aller Kraft nach rechts. Etwas knackte, und im nächsten Moment hielt sie den halben
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