Im Schutz der Nacht
Schlüssel in der Hand. Was ganz offenkundig bedeutete, dass die andere Hälfte im Schloss steckte.
»Verfluchte Scheiße!«, donnerte sie und sah dann hastig nach hinten, um sicherzugehen, dass die Zwillinge nicht stillschweigend hinter ihr standen. Wobei die Wahrscheinlichkeit, dass sie etwas stillschweigend taten, verschwindend gering war, doch falls es je dazu kommen sollte, dann bestimmt, wenn sie gerade fluchte. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass ihr nichts passieren konnte, ergänzte sie, da die Gelegenheit günstig war: »Verdammt noch mal!«
Okay, die Tür brauchte ohnehin ein neues Schloss. Und Schlösser kosteten wirklich kein Vermögen, aber trotzdem gab es immer etwas, das repariert oder ersetzt werden musste. Obendrein musste sie diese Tür öffnen, damit sie den Koffer irgendwo verstauen konnte, wo er nicht störte.
Leise vor sich hin fluchend stampfte sie die Treppe hinunter in die Küche. Sie hatte gerade die Hand nach dem Telefon ausgestreckt, um im Eisenwarenladen anzurufen und Mr Harris ausfindig zu machen, als sie ein Auto vor dem Haus halten hörte. Sie blickte aus dem Fenster und erkannte wunderbarerweise Mr Harris persönlich, der gerade aus seinem verbeulten Pick-up stieg.
Sie wusste nicht, was ihn hergeführt hatte, aber sein Timing hätte nicht besser sein können. Noch während er die Stufen heraufkam, riss sie die Küchentür auf und rief ihm sichtlich erleichtert und gleichzeitig verärgert entgegen: »Ich bin wirklich froh, dass Sie immer so schnell kommen!«
Einen Moment sahen seine klaren grünen Augen sie fassungslos an; dann wurde er knallrot. Sie begriff, was sie gerade gesagt hatte, und verstummte peinlich berührt. Beide blieben einen Atemzug lang stehen, ehe er sich räusperte und sich zu seinem Pick-up umdrehte. »Soll ich mein Werkzeug holen?«
»Mir ist der Schlüssel zur Speichertür abgebrochen, und ich muss die Tür aufbekommen.«
Er nickte, kehrte zu seinem Pick-up zurück, fasste über die Ladewand und hob den schweren Werkzeugkasten heraus. Ihr schoss durch den Kopf, dass er ganz offensichtlich stärker war, als es den Anschein hatte.
»Ich fahre morgen in die Stadt«, sagte er, während er die Stufen heraufstapfte. »Ich wollte Ihnen nur kurz Bescheid sagen, falls Sie irgendwas brauchen.«
»Ich habe ein paar Briefe, die Sie mitnehmen könnten«, sagte sie.
Er nickte, während sie beiseitetrat, um ihn hereinzulassen. »Hier lang«, sagte sie und ging ihm durch den Korridor voraus. Doch als sie die ersten Treppenstufen erstiegen hatte, machte sie es angesichts ihres Kommentars von eben verlegen, dass er hinter ihr ging und ihr auf den Hintern sah. Unwillkürlich ging sie etwas schneller. Der obere Korridor wirkte selbst bei eingeschalteter Beleuchtung düster, weil es dort kein einziges Fenster gab. Die offenen Zimmertüren ließen etwas Tageslicht herein, das meist ausreichte, solange man nichts Spezielles zu erledigen hatte, wie an einem bockigen Schloss herumzufummeln oder einen abgebrochenen Schlüsselbart zu bergen. Mr Harris öffnete seine Werkzeugkiste, holte eine schwarze Taschenlampe heraus und reichte sie ihr. »Leuchten Sie damit auf das Schloss«, murmelte er, schob den Koffer beiseite und ließ sich vor der Tür auf ein Knie nieder.
Cate schaltete die Taschenlampe ein und staunte über den mächtigen Strahl, den sie erzeugte. Die Taschenlampe war überraschend leicht und mit einem gummiartigen Überzug versehen. Sie drehte sie in der Hand, um nach einem Markennamen zu fahnden, konnte aber keinen entdecken. Dann richtete sie den Strahl auf die Tür und zielte genau auf das Schloss.
Mit einer spitzen, leicht gebogenen Pinzette entfernte er die abgebrochene Schlüsselspitze, dann nahm er eine Art Dietrich aus seiner Werkzeugkiste und führte ihn in das Schloss ein.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie Schlösser knacken können«, meinte sie lächelnd.
Seine Hand erstarrte, und sie meinte fast zu hören, wie er überlegte, ob er auf diesen Kommentar tatsächlich etwas erwidern musste; dann gab er ein undefinierbares, kehliges »Mmm« von sich und begann wieder in dem Schloss herumzustochern.
Cate trat direkt hinter ihn und beugte sich vor, um ihn genauer beobachten zu können. Der helle Lichtstrahl fiel auf seine Hände und akzentuierte jede Ader, jede kraftvolle Sehne. Er hatte wirklich schöne Hände, fiel ihr auf. Sie waren schwielig und ölfleckig, auf seinem linken Daumennagel prangte ein schwarzer Fleck, der aussah, als hätte er mit dem
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