Im Schutz der Nacht
Einen Monat? Ein Jahr? Sie hatte vor, ihn auf den Speicher zu stellen, es war nicht so, als wäre er ihr im Weg gewesen, aber seit Derek gestorben war, quälte sie sich ständig mit Katastrophenszenarien. Was war, wenn sie den Koffer nicht loswurde und ihr in ein paar Jahren etwas zustieß? Wer auch immer dann den Speicher ausräumte, würde auf diesen Koffer voller Männerkleidung stoßen und selbst
verständlich davon ausgehen, dass die Sachen Derek gehört hatten und dass Cate sie aus sentimentalen Gründen aufbewahrt hatte. Folglich wäre es nur logisch, den Koffer samt Inhalt für die Zwillinge zu behalten, aber sie wollte nicht, dass ihre Jungs irrtümlich die Sachen eines nervtötenden Fremden, der in Schwierigkeiten geraten und darum abgehauen war, als Hinterlassenschaften ihres Vaters verehrten.
Nur für alle Fälle nahm sie eines der Schreibpapiere mit dem Briefkopf der Pension, die sie in jedem Zimmer liegen hatte, und schrieb Mr Laytons Namen darauf, das Datum sowie einen kurzen Vermerk, dass er seine Sachen hiergelassen hatte, bevor sie das Blatt in den Koffer legte. Falls es zum Schlimmsten kam und sie starb, würde diese Notiz alles erklären.
Früher hatte sie sich nicht so viele Sorgen gemacht, aber das war, bevor sie so kurz hintereinander Mutter und Witwe geworden war. Es konnte immer etwas passieren. Mit dem Klettern hatte sie aufgehört, sobald sie erfahren hatte, dass sie schwanger war, und obwohl sie früher mit noch größerer Begeisterung geklettert war als Derek, hatte sie von dem Moment an keine Sekunde mehr mit dem Gedanken gespielt, ihr Hobby wieder aufzunehmen, weil sie immer an ihre Kinder denken musste. Was würde aus ihnen, wenn sie abstürzte und starb? Natürlich wusste sie, dass sie physisch versorgt wären; dafür würde ihre Familie sorgen und Dereks Familie genauso, obwohl die den Jungs nicht so nahestand, wie Cate es sich gewünscht hätte. Aber was war mit dem psychischen Wohlergehen der Zwillinge? Sie hätten zeitlebens das Gefühl, dass ihre Eltern sie im Stich gelassen hatten, und keine noch so logische Erklärung könnte diese instinktive Reaktion verhindern.
Darum ergriff sie alle nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen und scheute jedes riskante Verhalten und konnte die Hand des Schicksals doch nicht abwenden; ein Unfall konnte immer passieren. Sie würde keinesfalls zulassen, dass ihre Kinder glaubten, Jeffrey Laytons Sachen hätten ihrem Vater gehört. Außerdem hatte Derek einen besseren Kleidungsgeschmack gehabt.
Über den Gedanken lächelnd, nahm sie den Koffer in die eine Hand und den Kulturbeutel in die andere, trug beides in den Gang und stellte es dort ab. Dann ging sie in ihr eigenes Zimmer und holte den Schlüssel zum Speicher.
Weil die Jungs nicht allein auf den Speicher gehen sollten, hatte sie die Tür abgeschlossen und bewahrte den Schlüssel in ihrer Schminktasche auf, die in einer Schublade des Schminktisches im Bad lag. Auf dem Weg ins Bad kam sie an ihrer Kommode vorbei, auf der mehrere gerahmte Fotos standen. Sie spürte einen kurzen Stich im Herzen und blieb stehen, um die eingefrorenen Augenblicke ihres Lebens zu betrachten.
Das kam hin und wieder vor; inzwischen war so viel Zeit vergangen, dass sie meistens an der Kommode vorbeiging, ohne die Fotos wirklich wahrzunehmen. Wenn die Jungs an jenen seltenen Tagen, an denen sie morgens länger schlafen konnte, in ihr Zimmer gelaufen kamen, stellten sie ihr fast immer Fragen über die Fotos, und meistens konnte Cate ihnen beinahe gelassen antworten. Aber manchmal ... manchmal war es so, als würde eine rasiermesserscharfe Erinnerung aus der Vergangenheit herüberfliegen und ihr so schmerzhaft ins Herz schneiden, dass sie unwillkürlich stehen blieb, weil die Trauer sie zu überwältigen drohte.
Sie betrachtete Dereks Bild und konnte schlagartig seine
Stimme wieder hören, deren dunklen Klang sie fast vergessen hatte. Er hatte so vieles an die Jungs vererbt: die blauen Lausbubenaugen, das dunkle Haar, das freche Grinsen. Vor allem dieses unbekümmerte, sexy Grinsen hatte sie betört - na schön, und der schlanke, athletische Körper.
Er hatte in leitender Position in einer Werbeagentur gearbeitet; sie in einer großen Bank. Sie waren jung und ungebunden und hatten genug Geld, um alles zu unternehmen, wonach ihnen der Sinn stand. Nachdem sie zusammen klettern gegangen waren, hatten sie einander auch an anderen Orten als auf nacktem Gestein getroffen, und so hatten sich die Dinge immer
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