Im Sog der Gefahr
Aber es reicht aus, um sagen zu können, dass du irgendwo da draußen einen Halbbruder hast. Und ich hoffe bei Gott, dass du nicht gerade mit ihm den Sex deines Lebens hattest, denn für das Opfer gilt das definitiv.«
Holly ließ das Handy sinken und starrte es an. Als sie es wieder ans Ohr nahm, war Cassy noch da. Geduldig. Schweigend. Eine wahre Freundin. Hollys Stimme zitterte. »Ich verstehe das nicht. Ma hat gesagt, sie könne keine Kinder mehr bekommen. Das habe ich dir doch erzählt.« Sie drohte hysterisch zu werden. Unter ihrer Haut brodelte es.
»Ich weiß, Süße. Deshalb habe ich noch etwas anderes überprüft …«
»Was? Wen?«, fuhr Holly sie an.
Sie hörte ihre Freundin schwer schlucken. »Dein Vater hat die Blutgruppe AB positiv.«
»Und?«
»Du hast Null negativ, Holly.«
Sie begriff nicht.
»Es ist schlicht unmöglich, dass der Deputy Commissioner dein biologischer Vater ist.«
Holly hielt sich die Hand vor den Mund, sackte aufs Bett und rollte sich zusammen. »Da muss ein Fehler vorliegen.«
»Kein Fehler.«
Hollys Kopf begann zu dröhnen. »Du willst mir sagen, dass meine Mutter eine Affäre hatte? Dass mein Dad nicht mein Dad ist? Und dass sie noch ein anderes Kind hatte?« Nichts von alledem ergab einen Sinn.
»Das ist möglich, nehme ich an.« Holly konnte den Zweifel in der Stimme der anderen Frau hören. »Es ist aber auch möglich, dass du adoptiert wurdest.«
»Aber ich habe Babyfotos!« Schweiß lief ihr übers Gesicht, tropfte von ihren Schläfen und rann ätzend wie Säure an ihrem Hals hinunter.
Für einen Moment schwieg Cassy. »Wenn du mir etwas von der DNA deiner Mutter besorgst, eine alte Haarbürste oder ein Kleidungsstück, kann ich noch einen Abgleich machen. Aber es wäre das Beste, einfach deinen Vater zu fragen.«
Ihr Herz hämmerte so laut, dass die andere Frau es eigentlich hätte hören müssen. An ihre frühe Kindheit hatte Holly keine Erinnerungen, es war, als wäre dieser Teil ihres Lebens ausradiert. Oder verdrängt? Aber wer konnte sich schon wirklich an seine Zeit als Kleinkind erinnern? Sie rief das Foto von Leah Edgefield auf und starrte das kleine Mädchen an. Graue Augen. Wie sie. Wie Thomas Edgefield. Der Mann, auf den sie seit ihrer ersten Begegnung herabgesehen, den sie bemitleidet hatte.
Konnte er ihr Vater sein? Konnte
sie
Leah Edgefield sein?
»Holly? Alles okay mit dir?«
Himmel, sie hatte Cass ganz vergessen. »Mir geht’s gut. Ich muss meinen Vater anrufen …« Ihre Zunge wurde staubtrocken. Was sollte sie ihm sagen?
Ich habe mit jemandem geschlafen, der in die Ermittlungen involviert ist, und, übrigens, bin ich adoptiert?
»Willst du immer noch, dass ich Furlong davon erzähle?«
Oh Gott. Das war zu intim. Noch intimer, als von einem Perversen beim Sex beobachtet zu werden – und das hatte ihr schon gereicht. Das Zimmer begann vor ihren Augen zu schwanken. Aber der Gedanke, sie könnte adoptiert sein, bedrohte ihre ganze Identität, alle Überzeugungen, die sie je über ihren Wert als Mensch und als Polizistin gehabt hatte. Ohne dieses Erbe hatte sie nichts. War sie nichts. Übelkeit stieg in ihrer Kehle auf, aber sie zwang sie nieder. »Ich brauche nur ein bisschen Zeit, um das zu verarbeiten.«
»Ich versteh dich, Süße. Das ist ganz schön viel auf einmal. Aber …«
»Was?«
»Der Kerl, mit dem du geschlafen hast. Besteht die Möglichkeit, dass es derselbe Mann war, der mit der Toten geschlafen hat?« Und damit Hollys Bruder?
»Nein.« Als sie daran zurückdachte, was sie miteinander getan hatten, überschlug sich alles in ihr.
Herrgott, wenn Finn gelogen oder sich geirrt hatte …
»Sein Name ist Finn Carver, Alter sechsunddreißig – er war beim Militär, also
könnte
seine DNA noch im System sein, wenn sie nicht bereits vernichtet wurde. Sein Bruder, Brent Carver, neununddreißig, wurde gerade im Zusammenhang mit dem Mord an Gina Swartz vernommen. Ich weiß, dass er dem IFIS in Port Alberni freiwillig eine Probe gegeben hat. Er ist es nicht, aber würdest du … Wärst du so lieb … Nur, um sicherzugehen.«
Gefälligkeiten
. Sie hatte kein Recht, um einen Gefallen zu bitten.
»Sein Profil gründlich überprüfen und mit deinem abgleichen? Klar. Wird nicht lange dauern. Ich rufe dich umgehend zurück. Bist du sicher, dass die beiden Vollbrüder sind?«
Sie dachte daran, wie ähnlich sie sich sahen – beide blond und blauäugig. Sie wusste, dass sie zusammen aufgewachsen waren. Und sie konnte sich nicht vorstellen,
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