Im Sog der Gefahr
lassen Sie mich nachdenken. Letzte Woche war …« Er konzentrierte sich so angestrengt, dass sich seine Pupillen zusammenzogen. »Jetzt erinnere ich mich. Letzte Woche war ein Albtraum. Wir hatten von zwei Unis Buchungen für Exkursionen und ein kurzes Schülerprogramm. Dann, etwa eine Stunde bevor alle ankommen sollten, wurde eine unserer leitenden Ausbilderinnen schwer krank. Sie musste in einem Hubschrauber ins Krankenhaus nach Victoria gebracht werden und ist immer noch krank. Hatte eine Notfallblinddarmoperation,
sie
hat also ein wasserfestes Alibi für die ganze Woche. Scheußlich, so ein Blinddarmdurchbruch.«
Geduld.
»Also waren Sie den ganzen Tag im Labor und haben unterrichtet?«
Er schüttelte den Kopf. »Erst war ich im Labor, dann im Hörsaal. Ich bin sogar einmal mit dem Boot rausgefahren und habe ein paar von den jungen Leuten zum Ausbaggern mitgenommen. Und mit den ganzen restlichen Institutsangelegenheiten musste ich auch auf dem Laufenden bleiben.« Er lächelte. »Ich glaube, ich war in dieser Woche keinen Tag vor Mitternacht im Bett, und das hat mich so frustriert.« Er schüttelte den Kopf.
»Weil …?«, hakte sie nach.
»Weil ich unbedingt wieder zurück zu diesen Babys wollte.« Mit einer Hand wies er auf das Aquarium. »Es besteht die Möglichkeit, dass es sich um eine bisher unentdeckte Morphe der
Polycera tricolor
handelt, auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich ist. Eine andere Option ist, dass sie per Anhalter auf dem Schiff mitgefahren sind und hier eine neue, isolierte Kolonie gebildet haben, nachdem es gesunken ist. Aber sie kommen mir nicht bekannt vor, und wenn ich mich mit etwas auskenne, sind es Nacktkeimer …« Er brach ab, presste die Lippen aufeinander und wandte sich dann von ihr ab, um aus dem Fenster zu sehen. »Ich weiß, es geht dabei nicht um Leben und Tod, aber es ist alles, was ich noch habe, seit meine Frau gestorben ist.«
Diese Traurigkeit, von der sein ganzes Wesen durchdrungen war, ging Holly an die Nieren. Sie spürte die Fragen auf ihrer Zunge vertrocknen. Was sagte man zu einem Mann, der alles verloren hatte? Todesnachrichten zu überbringen war wahrscheinlich der härteste Teil ihres Jobs. Sie hasste es. Das taten alle. Und es würde wohl nur noch schlimmer werden, nachdem man die Nachwirkungen solcher gewaltsamen Verluste gesehen hatte.
»Als ich Sie zum ersten Mal sah, habe ich mir Hoffnungen gemacht, Sergeant Rudd.« Seine Augen waren klar und scharf. »Es war unfair von mir. Sie haben Ihre eigene Familie, und der möchte ich Sie nicht wegnehmen, wie man mir meine genommen hat. Aber wenn Sie die Möglichkeit haben, sich den Mord an meiner Frau und den Kindern noch einmal anzusehen«, er schluckte hörbar, »würden Sie es dann tun?«
Die leise Verzweiflung und seine wiedergefundene Würde bohrten sich in Hollys Herz und zerrten an ihrer Seele. »Schicken Sie mir die Akte. Ich werde sie mir ansehen, wenn das hier vorbei ist.«
Ihr Handy klingelte, und sie sah auf die Anrufanzeige. Finn. Ihr Puls setzte aus, aber sie war froh, eine Ausrede zu haben, um Edgefield mit seinen Meeresnacktschnecken allein zu lassen, bevor sie ihm noch wer weiß was versprach. Zum Beispiel eine gottverdammte DNA -Probe.
Finn stand auf der Schwelle zu Gina Swartz’ Haus und kämpfte gegen den Drang, sich zu übergeben. Beim ersten Klingeln ging Holly an ihr Handy.
»Deerleap Road eins. An der Kreuzung links. Kommen Sie her. Sofort.« Dann legte er auf.
Er spürte einen Schmerz in der Brust, ein Brennen, das mit jedem Herzschlag pulsierte. Wut und Trauer strömten durch seine Adern, doch er weinte nicht und behielt einen kühlen Kopf. Wie dieses Schwein, das einer unschuldigen Frau ein Messer ins Herz gestochen hatte.
Ein Messer in der Brust, genau wie bei Milbank. Aber Milbank war ein verkommener Dreckskerl gewesen, der jeden Zentimeter Stahl verdient hatte. Gina war
nett
gewesen.
Nett.
Was für ein beschissenes Monster würde so etwas einer Bibliothekarin antun?
Er ließ den Blick über den Wald schweifen, der ihr Haus umgab. Nein, kein Monster, einfach nur ein Mann. Unauffällig und böse. Unsichtbar.
Er ging ein paar Schritte und setzte sich auf die Schaukel, die Gina aufgestellt hatte, um sich den Sonnenuntergang anzusehen. Von hier aus war das Meer nicht zu sehen, aber es war ruhig und still. Wirklich still. Niemand hätte sie schreien gehört. Allerdings hätte es ihn überrascht, wenn sie die Chance dazu gehabt hätte.
Tränen wollten aus seinen Augen rinnen,
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