Im Sog der Gefahr
doch sie wurden von seinem Zorn verdrängt. Es war nicht das erste Mal, dass er einen gewaltsamen Tod zu Gesicht bekam. Zum Teufel, er selbst hatte Menschen umgebracht, und das effizienter als derjenige, der Gina beseitigt hatte. Aber das waren militärische Ziele gewesen, er hatte Befehle befolgt. Er hatte das Töten nie als selbstverständlich angesehen und die Menschen, die er getötet hatte, nie vergessen.
Kreischend flog ein Weißkopfseeadler über ihn hinweg, ein totes Kaninchen hing in seinen Krallen. Es gab genug Raubtiere in diesem kleinen Dorf. Aber das hier war etwas anderes. Irgendjemand in diesem finsteren kleinen Ort war ein eiskalter Killer, und dieser Gedanke beunruhigte Finn zutiefst.
Im Laufe der Jahre hatte es hin und wieder ungeklärte Todesfälle gegeben. War es möglich, dass sie die ganze Zeit einen Serientäter in ihrer Mitte gehabt hatten? Dass sie so naiv gewesen waren, während dieser Mensch Tag für Tag mit ihnen plauderte, scherzte und trank und seinen Zerstörungsdrang unter einer dünnen Schicht Geselligkeit verbarg?
Hatte er oder sie vor dreißig Jahren Thoms Familie ermordet?
Er hörte das Brummen von Reifen auf der Straße. Gina musste ein gutes Ohr für dieses Geräusch gehabt haben. Sie musste ihren Mörder gehört haben. Hatte sie ihn gekannt? War es ihr neuer Freund gewesen? Oder der alte?
Oh Scheiße!
Er hasste sich selbst für diesen Gedanken, für diesen winzigen Hauch eines Zweifels.
In einem neuen Allradfahrzeug der RCMP fuhr Holly vor. Die Hände in die Taschen geschoben, sah er zu, wie sie aus der Fahrerkabine sprang. Gott sei Dank hatte sie Malone mitgebracht. Er hätte sie nicht gern allein dort hineingehen lassen, hätte sie aber auch nicht davon abhalten können. Als der Mann zu ihm herübersah, wies er ihnen mit einem steifen Nicken den Weg zum Haus.
Er wünschte, dass nicht ausgerechnet Holly diesen Fall untersuchen und dieses Blutbad zu sehen bekommen müsste. Aber Herrgott, sie war nicht der Typ Frau, der zuhause saß und Muffins backte. Wenn sie das wäre, hätten sie sich nie kennengelernt.
Der Wind kühlte den Schweiß auf seiner Haut. Allmählich wurde ihm kalt. Er bewegte sich nicht. Es war ihm egal. Brent …
Wie soll ich Brent sagen, dass Gina tot ist?
Er hatte sie geliebt. Hatte sie immer geliebt. Undenkbar, dass er sie umgebracht hatte, nicht einmal wegen eines anderen Mannes.
Aber Brent war für sein Temperament berüchtigt. Und er war unbesonnen.
Scheiße!
Er kniff die Augen zu. Was zum Teufel sollte er tun? Sollte er Holly sagen, dass Gina und Brent ein Paar gewesen waren? Wenn er es nicht tat, würde es jemand anderes tun. Aber es ging hier um Brent, seinen Bruder. Um den Mann, der ihren Vater umgebracht hatte. Den Mann, der ihm das Leben gerettet hatte.
Gina war tot.
Er barg das Gesicht in den Händen. In einer so verfahrenen Situation gab es keine einfachen Antworten.
Eine Minute später kam Holly wieder aus dem Haus, aber für ihn war es, als hätte er sie seit Stunden nicht mehr gesehen. Ein Leben lang. Ihre Miene war starr, der Wind zerrte einzelne Haarsträhnen aus dem ordentlichen Zopf. Es kam ihm surreal vor, sie so wunderschön und gesund dort stehen zu sehen und gleichzeitig zu wissen, dass Gina nur ein paar Meter entfernt wie ein Jungfrauenopfer auf ihrem Bett lag.
Lange, sehr lange stand Holly auf der Treppe vor der Hintertür und starrte ihn an. Er erwiderte ihren Blick.
»Was machen Sie hier, Finn?« Ihre Stimme wehte über die Lichtung, und Holly folgte ihr mit langsamen Schritten.
»Ich bin hergekommen, um mit Gina zu sprechen.« War er in diesem Fall auch verdächtig? Scheiße. Wahrscheinlich.
Selbst das war ihm inzwischen egal. Vielleicht sollte er ein Geständnis ablegen, um Brent vor dem Gefängnis zu bewahren. Aber dann würde der wahre Mörder immer noch frei herumlaufen, und niemand konnte vorhersagen, wer sein nächstes Opfer sein würde. Thom? Laura? Holly? Er schloss die Augen. Im Umkreis von fünfundzwanzig Kilometern kannte er fast jeden Menschen. Er müsste doch einfach
wissen
, wer das getan hatte.
Als er die Augen wieder öffnete, stand sie direkt vor ihm. Die Falten um ihre Augen ließen sie müde aussehen, die Blutergüsse zerbrechlich.
Angespannte Stille dröhnte zwischen ihnen.
»Ich dachte, Sie wären bei der Arbeit.« Sie sah auf die Uhr.
Falls
Brent das getan hatte – und er glaubte keinesfalls, dass sein Bruder so geisteskrank war, aber
falls
doch –, hatte er es verdient, wieder ins
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