Im Sog der Sinnlichkeit
auf dem Parkett im Kreis gedreht hatte. Er hatte natürlich keine Notiz von ihr genommen. Kein Wunder, Melisande hatte nie begehrliche Männerblicke auf sich gezogen, was sie stets ohne Groll als Gegebenheit akzeptiert hatte. Sie hatte weder Vermögen noch Titel oder Landbesitz als Erbschaft in Aussicht. Sie sah durchschnittlich aus, ihr Haar war weder brünett noch honigblond, sondern in einem, wie sie fand, faden Ton dazwischen, und mit ihren blauen Augen hatte sie die Neigung, die Dinge ein wenig zu klar zu sehen. Eine Eigenschaft, der Männer wenig abgewinnen konnten, zumal sie gepaart war mit der lästigen Art, ihre Meinung freimütig zu äußern. Außerdem war sie eher kräftig gebaut als gertenschlank, ungestüm statt fügsam, bodenständig statt verträumt. All diese unerfreulichen Wesenszüge machten sie zur Außenseiterin. Nur ältere Herren, immer noch auf der Suche nach einer Ehefrau, richteten ihr Augenmerk auf sie. So kam es, dass Sir Thomas Carstairs ihr seinen Antrag machte, den sie annahm, da kein anderer vorlag. Außerdem hatte ihre Tante und einzige lebende Verwandte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihr keine zweite Saison finanzieren würde.
Sie hatte Carstairs geheiratet im Wissen, dass ihm nicht mehr viele Jahre bleiben würden. Er litt seit Jahren an Schwindsucht, begann bereits Blut zu spucken, deutliche Hinweise darauf, dass seine Tage gezählt waren. Er war reizbar, nörgelnd, wesentlich älter als sie und der unduldsamste Mensch, der ihr je begegnet war.
Aber sie hatte ihn geliebt.
Nur mit ihrer aufopfernden Pflege und Zuwendung hatte er einige Jahre länger gelebt, als seine Ärzte ihm vorhergesagt hatten. Er beschimpfte und kritisierte sie, schickte sie immer wieder weg, und dennoch hatte sie ihn geliebt. Und als er schließlich starb, hatte sie lange um ihn getrauert, sehr zum Erstaunen ihrer Bekannten.
Seltsamerweise hatte sie nicht geahnt, wie wohlhabend er war. Er hatte keine Verwandten oder Nachkommen, und Melisande war plötzlich eine reiche Witwe, was sie umgehend zur Zielscheibe von Glücksrittern machte. Nach ihrem Trauerjahr war sie nach London zurückgekehrt und hatte sich bald darauf erneut verliebt. Woher hätte sie wissen sollen, dass ihr Auserwählter leere Taschen und eine ausgeprägte Neigung zum Personal hatte? Sie hatte sich dazu hinreißen lassen, seinen Verführungskünsten zu erliegen, mehr aus Neugier, ob ein junger Mann sich wesentlich von Sir Thomas’ gelegentlichen und erfolglosen Bemühungen unterschied.
Es war langweilig und ekelerregend gewesen. Wilfred Hunnicut war kein ausgesprochen gut aussehender Mann. Sein fliehendes Kinn hatte er mit einem prächtigen Backenbart kaschiert, er hielt sich leicht gebeugt und neigte bereits in jungen Jahren zu einem Bauchansatz. Mit geschlossenen Augen hatte sie bei dem unaussprechlichen Akt allerdings nicht an idyllische Landschaften gedacht, wie ihre Tante ihr geraten hatte, sondern an einen anderen Mann, der sie mit seinem Gewicht auf die Matratze drückte, einen Mann, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Benedick Rohan aufwies. Doch auch das hatte nichts geholfen, da der keuchende und schwitzende Wilfred auf ihr sie zu sehr abgelenkt hatte und gottlob rasch fertig war. Dennoch wäre sie vermutlich bei ihm geblieben, hätte sie nicht das große Glück gehabt, ihn dabei zu ertappen, wie er das Stubenmädchen leidenschaftlich küsste.
Sie entließ ihren Verlobten, behielt das Stubenmädchen und kam zur Einsicht, dass sie in ihrem Leben keinen Mann brauchte. Sie sah ihre Erfüllung darin, Gutes zu tun und sich mit fröhlich gestimmten Menschen zu umgeben, die, wie die Erfahrung sie lehrte, ausnahmslos Frauen waren.
Frauen waren praktisch veranlagt, aufrichtig, einfallsreich und neigten weniger zu Wutausbrüchen, und wenn, hatten sie gewöhnlich allen Grund dazu. Auf diese Weise hatte sie im Laufe weniger Jahre gute Freundinnen gewonnen.
Sie förderte die Talente der gefallenen Mädchen, die sie auf der Straße auflas und bei sich aufnahm, gelegentlich auch mit ihren Geschwistern und den ledigen Kindern.
Allerdings zog sie strikte Grenzen im Hinblick auf Freier und Zuhälter, denen der Zutritt verboten war. Außerdem verlangte sie von jedem Mädchen, das in den Taubenschlag einzog, sein Gewerbe aufzugeben und einen anständigen Beruf zu erlernen.
Violet Highstreet konnte sie sich freilich nicht vorstellen, wie sie brav und fleißig in einer Nähstube saß, obwohl sie eine modische Begabung hatte und
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