Im Sog der Sinnlichkeit
unauffällig und zurückhaltend; nur gelegentlich trug er eine leicht gekränkte Miene zur Schau.
Der einzige andere Mensch auf dieser Erde, der es zuwege brachte, ihm Gewissensbisse zu verschaffen, war seine Mutter. Glücklicherweise befand sie sich mit seinem Vater auf einer ausgedehnten Ägyptenreise.
„Master Brandon ist hier, Mylord.“
„Brandon? Hier?“ Eine Mischung aus Erstaunen und Groll stieg in ihm auf. „Wie lange schon? Ich dachte, er ist in Schottland beim Fischen.“
„Seit zwei Monaten, Mylord.“ Richmonds Tonfall ließ einige Schlüsse zu. Brandon befand sich in Schwierigkeiten. Und das war keine Überraschung. Seit seiner Rückkehr aus dem Anglo-Afghanischen Krieg war er ein anderer Mann, längst nicht mehr der unbeschwerte tatendurstige junge Bursche, den es mit Begeisterung zur Armee gezogen hatte, von der er sich das große Abenteuer erhoffte.
„Wo ist er?“
„Im Bett, Mylord.“
Es war vier Uhr nachmittags. Sein jüngster Bruder pflegte bei Tagesanbruch aufzustehen und saß bei Sonnenaufgang bereits im Sattel für seinen Morgenritt. „Ist er krank?“
„Ich denke nicht, Mylord.“ Richmond war ein vollendeter Diener, der jeden Wunsch seines Herrn erahnte. „Sie finden ihn im blauen Zimmer am Ende des Flurs im ersten Stock.“
Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Benedick die Treppe hinauf, Irritation und Besorgnis kämpften in ihm. Die Irritation behielt die Oberhand. Am Ende des Korridors riss er ohne anzuklopfen die Tür zu einem verdunkelten Zimmer auf, eilte ans Fenster, zog energisch die Vorhänge zurück und ließ das Nachmittagslicht ein.
Die Gestalt im Bett rührte sich nicht, und einen kurzen Moment packte Benedick das Grauen. Er trat ans Bett und warf die Decke zurück. Sein Bruder lag seitlich gekrümmt in Unterhemd und Reithose und stellte sich schlafend.
Er war zu mager. Die wulstigen Narben an seinem Rücken heilten schlecht. Da Benedick wusste, dass Mitleid einem Mann schwer zusetzte, ließ er dieses Gefühl erst gar nicht aufkommen. „Wach auf, du verkommenes Subjekt, und erkläre mir, was zum Teufel du hier zu suchen hast!“
„Geh weg“, murmelte Brandon mit belegter Stimme, das Gesicht im Kissen vergraben.
„Ich denke nicht daran. Das ist mein Haus, in dem du dich breitmachst. Wieso bist du nicht in Schottland?“
Langsam drehte Brandon sich auf den Rücken. Auch im Halbdunkel war die Entstellung seines einst so hübschen Gesichts zu erkennen. Die Granate, die seinen kommandierenden Offizier und sieben seiner Kameraden tötete, hatte ihm das halbe Gesicht zerfetzt. Der Anblick zerriss Benedick noch immer das Herz und ließ ihn gleichzeitig zornig werden. Aus einem unerklärlichen Grund machte er sich Vorwürfe, seinen störrischen kleinen Bruder nicht beschützt und damit diese Tragödie verhindert zu haben. Hätte Vater ihm allerdings verboten, die Militärlaufbahn einzuschlagen, hätte Brandon seinem Elternhaus den Rücken gekehrt und sich freiwillig als Rekrut gemeldet. Er war besessen davon gewesen, Offizier und ein Held zu werden.
Ein Held war er geworden. Und ein gebrochener Mann.
„Hast du dich satt gesehen, Neddie?“ Brandon nannte ihn bei seinem Kosenamen aus Kindertagen, was nur unter den Geschwistern gestattet war. „Hübscher Anblick, nicht wahr?“
„Die Narben verheilen“, antwortete Benedick ohne Anteilnahme. „Wieso liegst du um diese Zeit noch im Bett?“
„Findest du nicht, dass ich mich besser nachts draußen bewege? Wer will diese Visage schon bei Tageslicht sehen?“
„Selbstmitleid ist mir neu an dir“, entgegnete Benedick sarkastisch.
Brandon verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. „Glaub mir, Bruderherz, für mich sind auch manche Dinge neu.“ Er richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. „Vermutlich wirst du Mutter und Vater schreiben, dass ich nicht nach Schottland gereist bin.“
„Warum sollte ich? Sie würden sich nur Sorgen machen, und ich weiß sehr wohl, wie lästig ihre Fürsorge sein kann. Wenn sie dir damit auf die Nerven gehen, geschieht es dir nur recht, aber ich befürchte, sie würden auch mich damit behelligen. Also nein, kleiner Bruder, ich verrate dich nicht. Hast du deshalb bei mir Unterschlupf gesucht statt im Haus unserer Eltern? Damit dich niemand verpfeifen kann?“
Brandons Lächeln war freudlos. „Du kennst mich gut. Genau wie ich dich. Hättest du vielleicht die Güte, mir noch ein paar Stunden Schlaf zu gönnen?“
„Auf keinen Fall. Wo hast du dich die
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