Im Sog der Sinnlichkeit
fantasievolle Hüte und Kleider entwarf. Wenn Violet nur den Willen und die Geduld aufbringen würde, ihr Handwerk zu erlernen! Doch daran fehlte es ihr zweifellos.
„Aber ich mache es doch gerne“, hatte sie gejammert, und Melisande ging dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf. Ebenso wenig konnte sie Benedick Rohans dunklen Blick vergessen, mit dem er sie mit kaum verhohlener Verachtung gemustert hatte.
Kein Wunder, dass er sie für eine Bordellwirtin gehalten hatte. Aber immerhin hätte sie erwartet, er zeige einer Puffmutter mehr Respekt als einer Wohltäterin. Hinter ihrem Rücken wurde sie verächtlich Charity Carstairs genannt, wie sie wusste.
Sei’s drum. Es gab schlimmere Schimpfnamen. Und die einzigen Menschen, die ihr je geschmeichelt hatten, waren hinter ihrem Geld her gewesen. Wenigstens konnte sie jetzt mit ihrer zwar späten Erfahrung auch dem charmantesten Glücksritter die kalte Schulter zeigen und froh darüber sein, diese Erniedrigung nicht noch einmal ertragen zu müssen. Welche vernünftige Frau würde sich schon aus freien Stücken dafür hergeben?
Heißer Tee und Kekse werden meine Nerven beruhigen, dachte Melisande, legte sich das Wolltuch um die Schultern, schlüpfte in ihre pelzgefütterten Pantoffeln und huschte leise in den Flur, um niemanden zu wecken.
Im Erdgeschoss von Carstairs House waren mittlerweile Schulungsräume, ein kleines Kontor und die Bibliothek untergebracht. Im ersten Stock befand sich der Empfangssalon, Melisandes Schlafzimmer und die Zimmer ihrer Mitarbeiterinnen. Emma Cadbury hatte das Zimmer neben ihr bezogen, und einige der älteren Frauen teilten sich Schlafräume im hinteren Teil des Hauses. Auch Violet hatte sie dort untergebracht, weil sie älter war als die Mädchen in den Zimmern in den oberen Etagen. Das war vielleicht ein Fehler.
Nichts war zu hören, als sie den Korridor entlangeilte. Sie hatte keine Ahnung, ob Violet sich heimlich aus dem Haus geschlichen hatte, um Viscount Rohan noch einmal aufzusuchen. Eine junge schöne Frau war nur schwer davon zu überzeugen, dass sie besser dran war, wenn sie Tag um Tag für geringen Lohn schuftete, statt in einer Nacht das Zehnfache zu verdienen, wenn sie nur die Beine breit machte, was Melisande sowieso nicht begreifen konnte. Jede vernünftige Frau müsste doch gerne akzeptieren, weniger Geld zu verdienen, um nicht gezwungen zu sein, einem Mann auf diese erniedrigende Weise zu dienen. Ein Frösteln überlief sie bei dem Gedanken an Rohans dunklen Blick. „Beenden Sie das, was Violet begann“, hatte er gesagt. Ungeheuerlich!
Sie saß am zerkratzten Küchentisch und wartete, bis der Tee gezogen hatte, als sie ein Geräusch im Flur hörte. Um diese Nachtstunde war auch die fleißigste Küchenmagd noch nicht auf den Beinen, und das Brot wurde erst in einer Stunde in den Ofen geschoben. Melisande horchte erschrocken auf. Doch dann steckte Emma den Kopf zur Tür herein, und ihre besorgte Miene hellte sich bei Melisandes Anblick auf.
„Ich hörte Geräusche auf dem Flur“, sagte sie und nahm sich eine Tasse aus dem Regal. „Erst dachte ich, es sei Violet, aber sie schläft und sieht aus wie ein Unschuldsengel.“ Sie schnaubte verächtlich.
„Nicht mehr lange, fürchte ich“, erwiderte Melisande und schob ihr den Teller mit den Keksen hin.
„Vermutlich hast du recht. Du kannst nicht alle verirrten Schäfchen retten. Nicht, wenn sie nicht gerettet werden wollen.“
Melisande goss Tee ein, und Emma setzte sich zu ihr an den Tisch. „Ich begreife das nicht. Wieso sind sie nicht heilfroh, diese Erniedrigung nicht mehr ertragen zu müssen? Wenn sie die Chance bekommen, ein rechtschaffenes Leben zu führen, ohne ständig Zudringlichkeiten von Männern ausgesetzt zu sein?“
Ein dünnes Lächeln umspielte Emmas Lippen. Eine schöne Frau, dachte Melisande. Was wäre wohl aus mir geworden, überlegte sie, wenn ich eine schwarz gelockte Schönheit und Emma das unscheinbare Mauerblümchen wäre?
„Nun ja“, begann Emma und nahm einen Schluck Tee. „Das Bett hat auch erstaunliche Freuden zu bieten.“
Melisande gab einen verächtlichen Laut von sich. „Es fällt mir schwer, das zu glauben. Es ist ja nicht so, dass ich nicht … als wäre ich noch … nun ja, ich habe meine Erfahrung, wie du weißt.“
„Natürlich hast du Erfahrung.“ Emma klang nachsichtig. „Aber du wirst zugeben, weniger als ich.“
„Immerhin sind wir im gleichen Alter“, warf Melisande ein, obwohl sie wusste, wie lächerlich ihr
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