Im Sog der Sinnlichkeit
haben ihr Gewerbe aufgegeben und London den Rücken gekehrt oder sind schrecklich sittsam geworden. Es ist zum Verzweifeln.“
„Wollen Sie etwa sagen, ich finde keine anständige Hure mehr in dieser Stadt? Das kann ich nicht glauben.“
„Hättest du lieber eine unanständige Hure?“, fragte Harry und lachte wiehernd. Benedick ignorierte ihn.
„Na ja, es gibt noch ein paar vernünftige Etablissements, die ein Gentleman für ein Glas Wein, ein paar Runden am Spieltisch und Damengesellschaft aufsuchen kann. Die Nacht ist noch jung!“
Benedick zögerte einen Moment, und dieses Zögern machte ihn stutzig. Er war nach London gekommen, um seinen sexuellen Appetit zu stillen, sich sämtlichen Ausschweifungen hinzugeben, bis ihm jegliche Lust darauf vergangen war, aber im Moment konnte er nur an zwei strahlend blauen Augen denken, die ihn voller Verachtung gemustert hatten. Großer Gott, es gab nichts Lästigeres als eine fanatische Frau, die die Welt verbessern wollte!
„Wohl wahr“, erklärte er im Aufstehen und stellte mit Genugtuung fest, dass er sich durchaus noch auf den Beinen halten konnte. Er war also nüchtern genug, um Spaß an der Sache zu haben. Mit einem trägen Lächeln wandte er sich an seinen alten Freund, doch Harry, den es im Übrigen noch nie sonderlich zu Frauen hingezogen hatte, schon gar nicht zu Huren, döste vor sich hin.
„Ich glaube, ich begleite Sie, Petersham“, verkündete Benedick.
„Fabelhaft!“ Petersham strahlte. „Ich verspreche Ihnen eine gepflegte und reizende Gesellschaft mit einer entzückenden Kleinen, die über ein ganz besonderes Repertoire verfügt …“
4. KAPITEL
M elisande Carstairs fand keinen Schlaf, wie schon häufiger in letzter Zeit. Gewöhnlich sank sie nach einem arbeitsreichen Tag erschöpft ins Bett, um augenblicklich wegzudämmern.
Doch das hatte sich seit einigen Tagen geändert, und sie fand keine Erklärung dafür. Stundenlang lag sie wach, versuchte an nichts zu denken, doch immer wieder drängten sich ihr sorgenvolle Gedanken auf an Violet oder Hetty oder die kleine Betsey.
Und wenn sie endlich einschlief, wachte sie kurze Zeit später schweißgebadet auf, in ihr war eine seltsam gespannte Unruhe, die nichts Gutes verhieß.
So auch in dieser Nacht. Nachdem sie vor Viscount Rohan in seinem verabscheuungswürdigen Zustand der Erregung geflohen war, hatte sie sich in hektische Arbeit gestürzt und eine Handvoll Mädchen in die Küche beordert, um aus dem Stegreif ein wahres Backgelage zu veranstalten, sehr zum Missfallen der Köchin. Die füllige gutmütige Mollie Biscuits, einst eine der gefragtesten Huren Londons, hatte es mit zunehmendem Alter und gleichfalls zunehmender Leibesfülle immer öfter in die Küche gezogen. Es störte sie keineswegs, dass andere Frauen von zweifelhaftem Ruf sich in ihrer Küche zu schaffen machten, sie wollte sich nur nicht die Herrschaft über ihr Reich streitig machen lassen. Wäre Melisande vernünftig gewesen, hätte sie Mollie das Regiment überlassen, sich zurückgezogen und sich ihrer Buchhaltung gewidmet.
Aber sie brauchte Zerstreuung, die sie im Backen von Baisers, Zimtkeksen und Sahnetorten, gefüllt mit Aprikosenmarmelade, fand. Schließlich gab die Köchin ihren schmollenden Widerstand auf, beteiligte sich an der munteren Runde, und bald glühte auch ihr pausbäckiges, mit Mehl bestäubtes Gesicht vor Begeisterung.
Natürlich hatte Melisande zu viel von den süßen Köstlichkeiten genascht und sich den Magen verdorben. Sie hatte seit jeher eine Schwäche für Süßigkeiten, mit denen sie sich aufmunterte, wenn sie Kummer hatte. Was sie allerdings diesmal dazu veranlasst hatte, sich mit Kuchen und Baisers mit Sahne zu trösten, war ihr ein Rätsel. Gut, sie hatte eine unerfreuliche Begegnung mit diesem verrufenen Viscount Rohan gehabt, der sie für eine Bordellwirtin hielt. Na und? Normalerweise hätte sie eine solche Verwechslung köstlich amüsiert. Und sie hätte ihn mit einer sarkastischen Bemerkung in seine Schranken verwiesen, der selbst der König Respekt gezollt hätte. Eigenartig, wieso diese lächerliche Begebenheit sie so aus der Fassung gebracht hatte.
Allerdings war sie ihm nicht zum ersten Mal begegnet. Vor zwölf Jahren, während ihrer ersten und einzigen Saison, war er mit Annis Duncan verlobt gewesen und hatte nur Augen für seine schöne Braut gehabt. Sie, die unscheinbare Melisande Cooper, hatte heimlich beobachtet, wie der blendende Tänzer seine Verlobte mit verliebten Blicken
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