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Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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ihm peinlich, zugeben zu müssen, dass er sich die Bänder überhaupt nicht angesehen hatte.
    Bucher sah den Kommissar an, dessen leerer Blick vor ihm auf den Boden fiel.
    »Ich habe noch nie einen Kinderporno gesehen. Schon viel anderes, das ja. Verkohlte Menschenteile, Wasserleichen, zerschossene Körper, Stichwunden, aber das hier …« Er deutete hinüber zu dem Schrank, wo er die Videos aufbewahrte. »Ich habe immer gedacht, dass ich irgendwie davon verschont bleibe.« Eschenbach hob die Augen.
    »Da kommt man nicht drum herum, tut mir Leid«, sagte Bucher trocken. »Also, wie kann ich Ihnen helfen?«
    »Ich hätte gerne Fotos. Abzüge, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ganzkörperaufnahmen und auch Details, wenn das möglich ist. Alles, was sich identifizieren lässt. Gesichter, Hände, Füße, Schuhe. Gürtelschnallen, weiß der Herrgott, was da alles drauf ist.«
    Bucher überlegte einen Moment. »Sie haben doch sicher Spezialisten, die so etwas können.«
    Eschenbach ließ nicht locker.
    »Okay«, kam es nach kurzem Zögern. »Lässt sich machen. Weil Sie’s sind.«
    »Danke.«
    »Alle Beteiligten?«
    Eschenbach stutzte.
    »Ich meine, nur die Erwachsenen oder auch die Kinder?« Eschenbach, dem mit dieser Frage das ganze Grauen wieder bewusst wurde, schluckte. »Alle.«
    »Sonst noch etwas?«
    »Nein, das wär’s.«
    Eschenbach bedankte sich nochmals und übergab Bucher die Videos, die er bei sich unter Verschluss gehalten hatte, und sie verabschiedeten sich.
    Der Kommissar war erleichtert, dass er die Videos los war. Wenn auch nur für kurze Zeit. Für ein paar Tage vielleicht. Obwohl er wusste, dass ihm nicht erspart bliebe, sich alles selbst anzusehen, war er froh um den Aufschub. Vielleicht waren Fotos leichter zu ertragen. Als Einstieg wenigstens.

13
    Das Old Shepherd war zum Bersten voll. Eine Gruppe von Bankangestellten feierte den Verkauf irgendeiner Firma, die irgendeine Dienstleistung erbrachte. Schon jetzt wusste niemand mehr, welchen Dienst sie wem leistete und weshalb. Es lief wie geschmiert, der Champagner in die Gläser und über die Gläser hinaus auf die blank polierte Theke. Nur der Boden klebte.
    Ein übergroßer, dreiarmiger Propeller aus Mahagoni und geflochtenem Korb, ein Relikt aus den fünfziger Jahren, drehte sich an der Decke und vermischte in Zeitlupentempo Zigarrenrauch mit dem Geruch von ausgedünstetem Alkohol und parfümiertem Schweiß. Joe Cocker sang etwas über Freundschaft, und die schwächelnde Musikanlage ließ seine Stimme noch heiserer wirken als sonst. Einer der Barkeeper fuchtelte mit einem Metallbecher. Seine langen, dunklen Wimpern schienen aufgesetzt. Sein Lachen auch.
    An einem kleinen Tisch im hinteren Teil der Bar saß Doris Hottiger in Jeans und einem weißen T-Shirt. Die Jeans saßen zu tief, das Shirt zu hoch. Das Piercing im Bauchnabel saß perfekt. Ein gut aussehender Mann mit Eroberungslächeln und Zähnen in Colgate-Weiß wollte sich zu ihr an den Tisch setzen. Sie winkte ab und entschuldigte sich ihrerseits mit einem Lächeln, das keines war. Auch beim Nächsten winkte sie ab, bei den fünf zuvor – oder waren es sechs gewesen? – hatte sie dasselbe getan. Der Stuhl neben ihr war frei; der einzig freie im Lokal.
    Würde er kommen? Sie hatte ihm aufs Band gesprochen. Ort und Zeitpunkt angegeben. Sie sah auf die Uhr. Halb zwölf. Um elf hatten sie – nein, hatte sie gesagt, dass sie hier sei.
    Sie zweifelte, ob er noch kommen würde. Wusste er, dass sie auf ihn wartete? Sie kam sich dämlich vor, so alleine am Tisch, und überlegte, ob sie aufstehen und an der Bar etwas trinken sollte. Sie hatte die Warterei satt.
    Der leere Stuhl neben ihr lockte die Nachtschwärmer. Er zog sie an, die Draufgänger und Müßiggänger, die Schüchternen und Selbstbewussten, wie das Licht die Motten. Und wie Motten, die ihre weichen staubigen Köpfe gegen hartes Lampenglas schlagen und trunken von Hitze und Licht taumelnd wieder davonfliegen, verzogen sie sich auch wieder. Falter der Nacht. Der Stuhl blieb leer.
    Sie mochte nicht mehr lächeln und auch nicht mehr abwinken. Sie fühlte sich müde. Ausgelaugt. Der hängende Rauch reizte sie. Sie rieb sich die Augen. Zuerst nur mit dem Handrücken, und als es nicht besser, sondern schlimmer wurde, mit beiden Händen. Sie drückte und rieb, dass es schmerzte. Irgendwie gefiel ihr der Schmerz. Sie sah dunkelrote Wellen, die sich in schäumendem Gelb brachen; sah die Sonne auf- und unter und wieder auf- und untergehen. Sie

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