Im Sommer sterben (German Edition)
das war sein Revier; es hatte sich über die Jahre so ergeben, und er war nicht unglücklich darüber.
Eschenbach war froh, dass er die Arbeitsbewilligungen der Prostituierten nicht mehr kontrollieren und die Besoffenen nicht mehr internieren musste. Er hatte das alles gesehen und gehabt. Nach seiner Vorstellung reichte es für ein Polizistenleben. Die Nächte auf Streife, die lähmende Schläfrigkeit, wenn nichts passierte, und die Thermoskanne mit schlechtem Kaffee, die dagegen nichts nützte.
Nicht, dass ihm Mord und Totschlag besser gefielen, oder die international organisierte Mafia, FBI und BKA ihm sympathischer waren, ganz im Gegenteil. Ab und zu wünschte er, es wäre wie damals, als die Mauer noch stand, und Zürich, fernab von Internet und Interpol, eine kriminalistische Provinz war.
Manchmal vermisste er sie, die Pappenheimer und Schlaumeier, die Zocker und Dealer, die sich in den dunkleren Gassen und Straßen von Zürich getummelt hatten. Sie fehlten ihm, so wie der Tante-Emma-Laden an der Ecke Badenerstraße/Langstraße fehlte oder die brennenden Kerzen auf dem Kuchen, den seine Großmutter buk, als er noch Geburtstag hatte. Gäbe es sie heute noch, man müsste sie ins Heimatmuseum stecken. Sie kämen einem vor wie Winnetou und Old Shatterhand auf West Point.
Und trotzdem, ein Mord blieb ein Mord. Ungeachtet der Umstände, die anders waren, und der Zeiten, die sich geändert hatten. Waren es tatsächlich die Zeiten? Oder waren es nur die Menschen, die sich änderten? Eschenbach hatte darauf keine Antwort.
Der Ordner, den er in seiner abgewetzten Ledermappe bei sich trug, schien mit dem Mord an Philipp Bettlach in Verbindung zu stehen. Da war etwas, das an losen Schnüren aneinander hing. Nur was war es? Er war die Liste sorgfältig durchgegangen. Einschlägige Namen waren darauf. Das beruhigte ihn in gewisser Weise. Bekannte Namen, auf die er nicht einmal im Traum gekommen wäre, waren ebenfalls auf der Liste. Das wiederum beunruhigte ihn. Mitglieder des Kantonsparlaments und der öffentlichen Verwaltung. Lehrkräfte und Leute aus dem Kirchen-, Gemein- und Heimwesen. Eschenbach musste die Namen mehrmals lesen, bis er es glaubte. Dass keiner darunter war, den er persönlich kannte, nahm er mit Erleichterung zur Kenntnis. Freunde, Bekannte und Verwandte. Fehlanzeige. Glück gehabt. Vielleicht nur Zufall.
Den einzigen Namen, den er erwartet hatte, und von dem er felsenfest überzeugt war, dass er draufstünde, fand er nicht. Philipp Bettlach. Nicht unter B und auch unter P nicht. Einfach nichts.
War die Liste nur die Spitze des Eisbergs? Eine ausgeräucherte Höhle in einem Berg, in dem es noch Dutzende von weiteren Höhlen gab? Er fand keine befriedigende Erklärung dafür.
Schließlich hatte er die Videos, den Computer mit der Festplatte und den Bildern. Das war mehr, als er brauchte. Dass er den Namen nicht fand, war ein Schönheitsfehler, mit dem er leben musste.
Gut die Hälfte der knapp vierhundert Personen lebten in oder nahe der Stadt. Darum würde sich jetzt das Stadtkommando kümmern müssen. Die hatten genug Leute. Auf der Sitzung rannte Kobler offene Türen ein. Der Fall wurde ihr geradezu aus der Hand gerissen, und Eschenbach war froh, dass er einen Teil der Arbeit loswurde. Es blieben immer noch zweihundert Verdächtige, um die er sich mit seinen Leuten kümmern musste. Happig, aber machbar. Konkurrenz ist ein Segen, dachte er.
Der Regen ließ etwas nach, und seine Füße gewöhnten sich an die feuchten Strümpfe. Er konnte sich jedoch nicht überwinden, das Jackett anzuziehen. Neben Moder- und Duftbaumgeruch miefte es jetzt auch noch säuerlich nach nasser Wolle. Der Schirm aus billigem rotem Plastik, den er für neun Franken neunzig erstanden hatte, war vom Winde verweht. Rechtwinklig standen die Streben nach oben. Er würde ihn beim nächsten Sonnenstrahl am besten irgendwo vergessen.
Zügig ging er die Löwenstraße hoch, überquerte die Sihl in Richtung Stauffacher und war auf einmal froh, als ihn die vertraute Drehtür ins Innere des Präsidiums katapultierte und er trockenes, dunkelgraues Linoleum unter den Füßen hatte.
Rosa Mazzoleni hatte, was selten vorkam, schlechte Laune. Sie grüßte ihn wortlos und ohne das vertraute Lächeln, an das er sich so leicht gewöhnt hatte. Sie nahm den Blick nicht vom Bildschirm, und was noch viel schlimmer war, sie dachte nicht im Traum daran, ihn zu fragen, wie das Meeting gelaufen war und ob er einen Espresso wollte. War es das Wetter
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