Im Sommer sterben (German Edition)
Nachttisch.
Hera hatte mit dem Wippen aufgehört. Die Bettdecke, die sie immer noch auf dem Gesicht hatte, machte ihr Schluchzen geräuschlos.
»Eine Überdosis Schlaftabletten …«, sagte er mehr zu sich selbst. »Das macht doch keinen Sinn. Der bringt allerhöchstens andere um … aber nicht sich selbst.«
Sie sagte etwas, das er nicht verstehen konnte. Es war so geräuschlos wie das Wimmern und Schluchzen. Er versuchte, ihr die Decke vom Gesicht zu nehmen.
»Pierre nahm nie Schlaftabletten«, kam es schniefend.
»Bist du sicher?«
Hera drückte die Decke zwischen ihre Knie und sah ihn verwundert an. »Was fragst du? Was soll das überhaupt? Ich hab ihm eine geknallt. Und ihr auch, dieser Tussi. Dann habe ich das Nötigste zusammengepackt und bin gegangen.«
»Und?«
»Nichts und!« Wieder schniefte sie. »Gelacht hat er, als wäre es Schmierentheater … scheißegal war’s ihm.« Sie hielt inne und rang nach Luft. »Leandro, glaub mir, der hat sich nicht umgebracht. Nicht Pierre.« Hera saß jetzt ganz aufrecht im Bett. Ihr Blick war unruhig, fast ängstlich. »Da ist etwas faul, Leandro, ich spüre das. Der würde sich nie umbringen.«
12
Links und rechts auf dem Schreibtisch stapelten sich die Akten. Der Eingangskorb für die Post quoll über, während das Fach für Postausgänge leer war.
Fünf Tage waren seit dem Mord vergangen, und Eschenbach hatte das erste Mal das Gefühl, dass er festsaß. Die Suche nach einer psychiatrischen Klinik, in der Philipp Bettlach möglicherweise behandelt worden war, verlief erfolglos. Ebenso jene nach Eveline Marchand, und Johannes Bettlach, der vielleicht hätte weiterhelfen können, ignorierte seine Anrufe. Er sei auf Geschäftsreise, hieß es bei der Bank, und erst auf nachdrückliches Verlangen des Kommissars rückte man mit der Mobilnummer heraus. Dort meldete sich, chipgesteuert und freundlich, die Stimme der Sprachbox. Keine Rückrufe. Nichts.
Eschenbach hielt beide Arme hinter seinem Kopf verschränkt. Die Stahlrohrkonstruktion des Drehstuhls bog sich beängstigend unter seinem Körper, und das schwarze Leder knarzte. Vor ihm auf dem Tisch, auf einer Untertasse, die als Aschenbecher diente, lag eine halb gerauchte Brissago. Zwei leere Espressotassen standen daneben.
Der Herr im grauen Businessanzug, der ihm gegenübersaß, war gute zehn Jahre jünger als Eschenbach. Er hatte eine randlose Brille, kurzes blondes Haar und intelligente Augen. Das weiße Hemd mit Button-down-Kragen trug er ohne Krawatte, und man hätte ihn in seiner adretten Aufmachung leicht für einen Wirtschaftsstudenten halten können.
Marcel Bucher war Chefbeamter für besondere Aufgaben beim Bundesamt für Polizei, kurz BAP. Er war Leiter einer Sonderkommission, die sich mit Ermittlungen im Zusammenhang mit der Internetkriminalität befasste.
Als er Eschenbach am Dienstagmorgen kurz nach halb zehn anrief, tönte alles sehr geheimnisvoll. Aus aktuellem Anlass wolle er mit ihm über eine Angelegenheit sprechen, die bundesweit als streng geheim klassifiziert und deshalb besonders delikat sei. Er bringe entsprechend eine Vertraulichkeitserklärung mit, die Eschenbach zu unterschreiben habe. Man versuche den Kreis der involvierten Personen so klein wie möglich zu halten, obwohl dies bei einem gigantischen Projekt wie diesem ein schwieriges Unterfangen sei. Eschenbach war Nummer vierhundertzwölf auf der Liste.
Obwohl er Geheimnistuerei hasste, und ihm die Bundespolizei mit ihrem Verwaltungsapparat ein Gräuel war, hielt er sich eine gute Stunde am Nachmittag frei, um Bucher zu empfangen. Schaden konnte es ja nicht, sich die ganze Sache einmal anzuhören, dachte er; und insgeheim musste er sich eingestehen, dass er auch ein wenig neugierig geworden war. Es interessierte ihn, an welchen hoch geheimen Projekten seine Kollegen in Bern gerade wieder herumbastelten.
Als ihm der junge Beamte gegenübersaß und ihn unprätentiös und sachlich in Kenntnis setzte, dachte er daran, seine Vorurteile gegenüber Bern zu revidieren. Oder zumindest zu überdenken. Da war keine Wichtigtuerei, die ihm aus früheren Fällen so unauslöschbar in Erinnerung geblieben war. Hatte sich doch etwas bewegt im alten Bern? Vielleicht war Bucher auch nur die Ausnahme von der Regel.
»Angefangen hat alles mit der Webseite Landslide.« Bucher sprach leise, und sein Berndeutsch schien ihm auch nach dem Studium an der ETH in Zürich und nach einem längeren Aufenthalt in den USA erhalten geblieben zu sein. »Die
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